Am Samstag, dem 19. März, las die Autorin Marion Schneider aus ihrem zur Buchmesse erschienen Band „Orgasmus“. Anschließend kam sie mit Publikum ins Gespräch. Das Interview- und Fotokunstprojekt zum Thema weiblicher Orgasmus entstand unter Mitwirkung von circa 30 Interviewpartnerinnen und wurde 2015 in einer englischsprachigen Ausgabe publiziert. Dabei standen die Fotos der amerikanischen Künstlerin Linda Troeller im Mittelpunkt. Glücklicherweise hat sich mit Claudia Gehrke eine Verlegerin gefunden, die den Mut hat, die deutsche Übersetzung in ihrem Konkursbuchverlag herauszubringen.
Warum dieses Buch wichtig ist
Bei meinen Versuchen, das Buch Freundinnen und weiblichen Bekannten zu empfehlen, bin ich auf Reaktionen wie diese gestoßen:
Orgasmus – das ist eher etwas, für das sich mein Mann interessiert.
Orgasmus durch Selbstbefriedigung - ist für mich kein Thema.
Orgasmus ist für mich kein Thema mehr – ich bin schon lange ohne Beziehung.
Und das hörte ich nicht nur von heterosexuellen Frauen, sondern auch von lesbisch orientierten, die ja gemeinhin einen anderen Zugang zum weiblichen Körper haben. Diese Antworten bestätigen, die Beobachtungen von Linda Troeller und Marion Schneider: „Frauen sprechen selten über ihre intimsten Gefühle – nicht einmal mit ihren Freundinnen, Ehegatten oder Freunden, geschweige denn mit irgendwelchen anderen.“ Und das steht in krassem Widerspruch zum Umgang mit dem Begriff in den Medien.
Wir sind aufgeklärte Menschen, frei und nicht verklemmt, wir brauchen und genießen Orgasmus, am besten multiple. Orgasmus ist die Erfüllung, der ultimative Höhepunkt des Sexlebens. Jede/r will es, jede/r braucht es, jede/r strebt danach. Aber wie kommt Frau, und nebenbei bemerkt auch Mann, da hin ohne sich selbst zu entdecken, sich kennenzulernen, zu erforschen? Ohne Kommunikation über diese zutiefst persönlichen Erfahrungen? Spät, zufällig oder gar nicht lautet leider all zu oft die Antwort.
Gemeinsame Erfahrung des Tabus
In „Orgasmus“ gibt es Interviews mit mehr als zwanzig Frauen und einem Transmann unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher sexueller Orientierung. So verschieden diese Menschen auch sind, einiges ist ihnen allen gemeinsam: Als Kinder und Pubertierende konnten sie mit niemandem über das Phänomen Orgasmus reden. Sie spürten schon früh ein Tabu. Die Erwachsenen verweigerten oder verbaten sich Fragen zu diesem Gefühl. Marianne und Gudrun berichten sogar davon, wie diese angenehme Empfindung, für die sie keine Worte hatten, von Männern benutzt wurde, um sie als Mädchen zu missbrauchen.
Orgasmus ist ein Gefühl. Ein ganz normales Gefühl wie jedes andere. Es kann ausgelöst werden durch eine völlig unwillkürliche körperliche Reaktion, etwa so wie Niesen. Das Thema ist auch im 21. Jahrhundert schuld- und schambesetzt, für Frauen stärker als für Männer. Denn bei Männern ist Masturbation mittlerweile allgemein akzeptiert, nach dem Motto: Die brauchen das. Frauen dagegen brauchen immer noch jemand anderen dazu. Jemanden, der sie zum Höhepunkt bringt. Einer Frau, die sich selbst befriedigt, sich selbst zu ihrem sexuellen Glück verhilft, haftet entweder etwas Frivoles oder etwas Abgründiges an.
"Sie wollen uns nicht wirklich frei sehen"
Da hat sich seit den 70iger Jahren, als der Film „Deep Throat“ im US Kongress eine Kontroverse auslöste, wenig verändert. Dragonfly geht in ihrem Interview auf die Hintergründe ein. Sie meint, der Film wurde verboten, „weil er eine Frau zeigte, die Spaß hatte, während Männer unfähig waren, das Konzept des weiblichen Orgasmus tatsächlich zu begreifen und zu akzeptieren. Und genau das war das Radikale, was sie für ungehörig hielten. Es ging nicht um den Inhalt. Es war der Fakt, dass vaginaler und klitoraler Orgasmus unbekannt waren. Ich meine, dass dies der Beginn der Zukunft war, in der wir uns jetzt befinden. Und ich empfinde den Umgang mit dem Film als typisch dafür, wie Männer die Frauenemanzipation manipuliert haben. Sie wollen uns nicht wirklich frei sehen, außer wir machen unsere Ärsche und Titten für sie frei. Das ist das, was sie befreien wollen – alles andere nicht. Warum? Wenn wir unser Recht auf Vergnügen und Orgasmus beanspruchen, dann bedeutet das für sie, dass sie ihr Spiel auf Hochglanz polieren müssen. Und das wollen sie nicht. Das wäre die Aufgabe eines Status und eines Privilegs, welches sie nicht abgeben wollen.“
Regeln sind aus Angst gemacht
Die junge Maayan aus Israel kritisiert das tradierte Frauenbild, mit dem sie aufgewachsen ist: „Grundsätzlich betrachtet wird erwartet, dass du beides bist: die Mutter und die Hure. Die Hure kommt nur ans Tageslicht, wenn du mit deiner wahren Liebe zusammen bist. Wenn sie nicht rauskommt, bist du frigide, langweilig, ein Ärgernis - und niemand möchte Sex mit dir haben. Es wird von dir erwartet, dass du eine zurückhaltende Frau bist, die ihre Grenzen kennt. Es wird von dir erwartet, dass diese beiden Charaktere die ganze Zeit in dir leben. Aber Du musst sie voneinander unterscheiden können. Es wird erwartet, genau zu wissen, wann die jeweilige Seite herauskommen darf."
All diese Regeln sind im Grunde frauenfeindlich. Sie sind von Menschen gemacht, die Angst vor Frauen haben, die Angst vor ihrer eigenen Sexualität haben, die Angst haben, mit etwas konfrontiert zu werden, dass sie nicht kontrollieren oder erobern können. Deshalb sind Orgasmus und autoerotisches Vergnügen so wichtig. Denn sogar ich fühle mich, nachdem ich über diese Dinge gelesen, nachgedacht und mich damit auseinandergesetzt habe, noch immer kontrolliert. Ich kann nicht davor weglaufen, weil ich eben so bin. Dennoch erleichtert dich dieser kurze Moment – du bist frei. Aber du kannst nicht völlig frei sein.
Das ist etwas, was ich für mich selbst verstanden habe, als ich meine ersten sexuellen Erfahrungen machte. Ich erkannte, dass ich mich wirklich darum sorgte, wie ich aussehe. Und ich gab mir Mühe, so auszusehen, wie ich es im Fernsehen gesehen hatte, in Spielfilmen, in der Werbung – in der Art und Weise eben, wie Sex aussehen sollte. Das bedeutet nicht, wie es sein soll, sondern das gibt vor, wie es auszusehen hat. Es wird erwartet, dass ich meinen Fuß so und so platziere, und ich soll mich hinstrecken. All diese Dinge gingen mir durch den Kopf, als ich Sex hatte. Es war sehr wichtig für mich so auszusehen wie eine Frau eben aussieht, wenn sie eine sexuelle Begegnung hat.“
Solveig Feldmeier
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