Unaus­sprech­lich

Was­ser­flä­chen bis zum Hori­zont, ver­ein­zelt Baum­wip­fel, Hügel und Häu­ser – das Bild eines Hoch­was­sers ist heut­zu­ta­ge nicht mehr nur bedroh­lich. Fast anzie­hend wirkt das Kata­stro­phen­sze­na­rio von über­schwemm­ten Fel­dern und Nutz­flä­chen. Wie kommt es, dass die zer­stö­re­ri­sche Kraft der über ihre Ufer tre­ten­den Flüs­se der­ge­stalt ästhe­tisch wir­kend unse­re Köp­fe und Kör­per durch­ein­an­der­brin­gen kann? Viel­leicht ist es der heim­li­che Wunsch nach Rück­erobe­rung der Natur, wis­sen wir doch, dass die letz­ten 300 Jah­re Land­schafts­ge­stal­tung in unse­rer Regi­on haupt­säch­lich aus der Züge­lung von Was­ser­läu­fen, Gezei­ten und Sumpf­flä­chen bestand. Hin­zu kommt, dass Bewe­gung in die sonst nahe­zu erstarr­te und von Raps und Mais star­ren­de Land­schaft kommt: Bäu­me schwim­men an unse­ren Augen vor­bei, Schwär­me von ras­ten­den Gän­sen und Kra­ni­chen neh­men dort Platz, wo sonst Mäh­dre­scher und Trak­to­ren auf den nächs­ten effi­zi­en­ten Ein­satz war­ten. Auch wenn es böse Bli­cke von den Bau­ern gibt oder von den Men­schen, deren Kel­ler leer­ge­pumpt wer­den müs­sen – es ist kei­ne Scha­den­freu­de, die uns an den Rand des Hoch­was­sers treibt; es ist die stil­le Hoff­nung, dass es ein Refu­gi­um des Unkon­trol­lier­ten gibt im durch­ge­styl­ten kapi­ta­lis­ti­schen Ver­wer­tungs­sys­tem Erde, dass es unkon­trol­lier­ba­re Situa­tio­nen gibt, in denen wir für einen Moment das atmen, was fast aus­ge­stor­ben schien mit Birk­huhn und Schwarz­storch: einen Hauch von Freiheit.

Rudi Guricht
Foto: Thies/ Hoch­was­ser an der Brach­wit­zer Fäh­re 2011

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