Es war Anfang Januar 1977 als ich - eine unbedeutende DDR-Bürgerin - eine Urlaubsreise über den Atlantik in westliche Gefilde antreten durfte. Von Kontinent zu Kontinent in Zeiten des kalten Krieges - wie war das möglich? Die Weltpolitik interessierte mich damals nur sekundär. Ich war stolze DDR-Bürgerin und einfach glücklich darüber, mein Dasein auch mal im Ausland vertreten zu dürfen. Eine wesentliche Rolle spielte, dass ich 1975 das zweite Mal geheiratet hatte und nun eine waschechte Seemannsfrau war.
Nach beendeter erster Ehe war ich glücklich darüber, wieder verheiratet, aber dennoch frei zu sein. Ich genoss also mit meinen Kindern das neue Familienleben. Wenn mein Ehemann zu Hause war, gaben wir eine perfekte Familie ab - mit den zwei Töchtern aus erster Ehe, die nun zwei Papas hatten, womit sich nicht alle Kinder rühmen konnten. Wenn mein Mann dann wieder an Bord musste, war das Abschiednehmen jedesmal ein Drama, aber nicht lange. Denn bald ging alles im gewohnten Trott weiter. War doch eher das Familienleben die Ausnahmesituation...
Meinem Mann schickte ich regelmäßig Briefe bis Japan. Auch die Caro-Zigaretten, die er liebte, sandte ich ihm hinterher. Hin und wieder gab es Telefonate, die vorher extra angemeldet werden mussten. Manchmal war erst nach Stunden erst der Kontakt hergestellt. Wir erhielten natürlich auch Post aus Übersee, Briefe und bunte Karten und irgendetwas Schönes brachte "der Papa" auch immer mit, wenn er nach Monaten wieder nach Hause kam. Ich führte also das Leben, was für Frauen dran ist, wenn Kinder existieren, und das so lange, bis sie aus dem Haus waren. Genau so lange funktionierte unsere Ehe auch.
Ich könnte es Glück nennen
Doch ich möchte erzählen, warum es möglich war, dass ich eine Seereise über das weite Meer machen durfte, eine schöne Reise außer Landes trotz Mauer.. Ich könnte es Glück nennen, dass ich durch Heirat eine Seemannsfrau wurde, und für das Wohlfühlen der Familien einiges getan wurde, vor allem für diejenigen Familien, bei denen eine Person im Auslandsdienst tätig war oder "Reisekader", wie es damals hieß. Die DDR-Reederei, genannt DSR-Deutfracht Seerederei, bei der mein Ehemann angestellt war, hatte über 10.000 Mitarbeitende, mehrheitlich Männer natürlich.
Die Seeleute kamen aus der ganzen Republik und nicht alle zogen an die Küste, nur weil sich der Stammbetrieb dort befand. Es gab etwa 4000 Seemannfamilien, die im ganzen Lande verstreut wohnten und im Bezirk Halle lebten 140 davon, also auch 140 Seemannsfrauen...
Für jeweils drei DDR-Bezirke existierte also eine hauptamtliche Koordinatorin, welche die Aufgabe hatte, in den Bezirksstädten so genannte "Seemannsfrauenaktive" zu gründen. Vor Ort wurden diese dann von ihr angeleitet und betreut. Für die Bezirke Halle, Leipzig und Magdeburg saß die Koordinatorin in Leipzig und ließ sich einmal monatlich in jeder Bezirksstadt blicken. Doch wie sah das nun aus mit der Betreuung? Dazu muss ich in Erinnerung rufen, dass in der DDR viel gefeiert wurde, auch oder vor allem in größeren und kleineren Betrieben und natürlich im Staatsapparat. Das ging mit der Neujahrsbegrüßung los, danach folgte die Faschingszeit und darauf dann die Frauentagsveranstaltungen. Die waren ein Fest für's ganze Land, überall fröhliche und auch besoffene Weiber. Nach der Urlaubszeit wurde der "Tag der Republik" begangen und danach standen bereits die Weihnachtsfeiern ins Haus. Außerdem gab es noch diverse Brigadefeiern und was es sonst noch so zu feiern gab.
Von Höhepunkt zu Höhepunkt..
Da nun die Seemannsfrauen und die Familien nicht immer alle nach Rostock fahren konnten, wurden für sie "Höhepunkte" in den Bezirksstädten geschaffen und diese ( heute würde es wohl "Events" heißen .. ) wurden durch die Koordinatorin und ehrenamtliche Helferinnen organisiert. In Halle existierte seit 1973 ein Seemannsfrauenaktiv, deren stellvertretende Vorsitzende ich neun Jahre lang war. Dazu gehörten ungefähr zehn Frauen, die sich einmal monatlich abends in gemütlicher Runde, im damaligen "Haus des Lehrers" trafen. Getränke wurden immer durch die Reederei finanziert und unsere zuständige Koordinatorin teilte uns für die jeweiligen Veranstaltungen eine bestimmte Summe zu. Und der Betrieb war nicht kleinlich... Seeleute, die sich gerade im Urlaub befanden, waren immer gern gesehen. Deren Mitbringsel standen bei der Jahresveranstaltung zur Verfügung, um für einen guten Zweck versteigert zu werden. Elf ganze Jahre brachte ich mich also mit meinen Möglichkeiten beim Seemannsfrauenaktiv ein und das wurde dann als "gesellschaftlich nützliche Tätigkeit" ( heute Ehrenamt genannt ) hoch geschätzt. Diese für mich auch schöne Zeit endete mit einer weiteren Ehescheidung.
Die Fürsorge und Betreuung, die man uns Seemansfrauen angedeihen ließ, waren natürlich nicht selbstlos, sondern sehr wohl auch im Sinne des Betriebes, wenn nicht sogar des ganzen Staates. Wir sollten uns wohlfühlen und dafür Sorge tragen, dass unsere Ehemänner auch weiterhin die Seefahrt fröhlich fortsetzten und ihrem Betrieb und dem Land die Treue hielten. Und die "führende Partei" war daran interessiert, dass Frauen beschäftigt und somit auch stärker unter Kontrolle waren, um nicht etwa auf Abwege zu geraten.. Die eingesetzten "Kontrollorgane" waren dabei aber keinesfalls lästiger als die neidische Nachbarschaft. Da konnte auch die Frömmste nicht in Frieden leben, wenn............
Mit auf hoher See..
Dass ich nun als mitreisende Ehefrau eine mehrmonatige Seefahrt, also eine kleine Weltreise erleben durfte, war wirklich ein großes Glück für mich. Ich war nicht die einzige Seemannsfrau, die ihren Ehemann ab und zu begleiten durfte. Diese Möglichkeit nutzten viele andere auch. Es gab einen Ministerratsbeschluss, der die Bedingungen dafür festlegte. Die Eheleute sollten mindestens 2 Jahre verheiratet sein, dann dufte alle zwei Jahre eine Mitreise beantragt werden. Bei mir gab es eine kleine Ausnahme, denn ich war bereits mit meinem Mann auf hoher See, als wir unseren zweiten Hochzeitstag begingen. Ich war zwar nicht in der "Partei", aber gesellschaftlich sehr engagiert und so etwas wurde auch honoriert. Ansonsten galt übliche Prozedere – Pass besorgen, der beim Stammbetrieb, also in Rostock, abgeholt werden musste. Dann die Impfungen gegen alles Mögliche.. Es war nicht immer bekannt wohin die Reise ging, na und dann das Familiäre. Kinder durften damals nicht mit auf West-Reisen. Der Staat behielt sie dadurch indirekt als Pfand gegen Republikflucht ein. Es durften aber auch kinderlose Ehefrauen mitfahren.. Mir persönlich wurde allerdings kein Fall bekannt, wo eine mitreisende Seemannsgattin nicht wieder zurück kam. Es waren eher die Seemänner selbst, die ihre Reise manchmal zur Republikflucht nutzten. Aber das sind andere Geschichten...
Aber warum hätte ich auch meine Heimat verlassen sollen? Ich hatte im Grunde alles, was ich zum Leben brauchte. Zurück zur mitreisenden Ehefrau: Die Kinder mussten also unter gebracht werden- bei Großeltern, Freundinnen, im Kindergarten, in der Schule. Manchmal gab es da auch Ummeldungen, wenn die Betreuung für diese Zeit anderenorts stattfand, also in einer anderen Kindereinrichtung oder einer anderen Schule. Dabei gab es Hilfen vom Seemannfrauenaktiv, aber auch von Behörden. Mir wurden diesbezüglich keine Steine in den Weg gelegt. außer dem war meine Mutter noch eine große Hilfe.
Für meine Mitreise nutzte ich auch den Jahresurlaub. Das wäre nicht mal nötig gewesen, weil dafür "unbezahlte Freizeiten" gewährt wurden, je nach gewünschter Reisedauer. Ich war damals als Pädagogin in einer Schule für Schwerhörige tätig und mein Betrieb deklarierte meine Reise für mich auch als Auszeichnung für meine gute Arbeit. Meinen Kolleginnen daheim hatte ich einen Diavortrag versprochen, den ich nach meiner Rückkehr auch hielt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie neidisch waren, aber vielleicht hatte ich das in meiner Freude nicht bemerkt. Natürlich hätte ich allen ebenfalls so eine Reise gewünscht und es nicht wirklich verstanden, warum so stolze DDR-Bürgerinnen wie ich und andere sich nicht öfter im westlichen Ausland zeigen durften. Möglicherweise wären sie ja viel motivierter zurückgekommen - so wie ich auch. Eine Auswahl der Reiseroute war allerdings nur bedingt möglich. Nur selten standen bei der Antragstellung schon alle Häfen fest, die angelaufen werden sollten. Welche Fracht nun wohin genau verschifft wurde, ergab sich oft erst kurzfristig, um beispielsweise Leerfahrten zu vermeiden.
Antwerpen, Bermudas und Bahamas
Meine Reise sollte nach Kuba gehen, um Zucker zu holen; und zuvor war eine Desinfektion des Schiffes in Antwerpen geplant, wofür genau eine Woche Hafenaufenthalt vorgesehen war. Und dann hieß es Kekse und Whisky von England zu den Bermudas und den Bahamas bringen. Von Rostock ging es nach Hamburg, Antwerpen, (Brüssel), Tilbury- London, Hamilton (Bermuda), Nassau (Bahamas), Veracruz und Tampico (Mexiko) und dann noch Cienfuegos und Cardenas auf Kuba. Es ging natürlich auch noch zu den Aztekentempeln und nach "Varadero".
Im Nachhinein wurde mir selbst von gestandenen Seeleuten konstatiert, dass ich eine absolute Traumreise erwischt hatte. Wenn es zum Beispiel nach Singapur, Hongkong oder Kuala Lumpur gegangen wäre, wären wir ein halbes Jahr fast nur auf dem Wasser gewesen. Wir aber liefen in den 72 Tagen insgesamt acht Häfen an und besuchten noch mehr Städte. Landgang gab es nicht nur für mich als Mitreisende, sondern die ganze Mannschaft konnte zu Ausflügen von Bord gehen.
Zu Hause heizte Andreas Holm den Leuten vor dem Bildschirm mit seinem Schlager "Sie war aus Varadero" ein. Ich selbst hätte mir niemals träumen lassen, dass ich genau an diesem im Ostschlager besungenen Strand baden gehen könnte. Unser Geld war knapp, aber es reichte. Mein Mann hatte vorher seine Devisen, von denen er monatlich etwas verdiente, gespart und ich durfte 100 Ostmark 1:1 in Westmark umtauschen. Das war der Umtauschsatz für Seeleute, ganz egal ob die Reise 2 Monate oder ein halbes Jahr währte. Für die Dauer meiner Mitreise musste ich nur den Tagessatz bezahlen, der auch für die Verpflegung der Seeleute zur Verfügung stand und der war für DDR-Verhältnisse hoch -
8,60 Mark. Aber die Verpflegung an Bord war vorzüglich. Insgesamt kostete mich die Traumreise 600 Mark - all inclusive.
Weibliche Schiffe und männliche Männer
Eine Mitreise auf einem DSR-Frachtschiff bot zwar nicht ganz den Luxus, den es auf einem Passagierschiff gab. dafür aber war es weitaus interessanter, als auf so einem fahrenden Hotel mit 1000 Leuten und mehr. Diese meine erste Reise machte ich auf dem Motorschiff „Nienburg“. Gesagt wird ja auf der MS „Nienburg“, weil Schiffe weiblich sind. Das ist teil eines alten Aberglaubens, der unter anderem auch besagt, dass Frauen an Bord generell Unheil bringen. So ganz ohne ist das natürlich nicht, wenn die Männer in der Überzahl sind.
Die „Nienburg“ war ca. 150 Meter lang und 35 Meter breit, also ein mittelgroßes Frachtschiff, auf dem man sich ganz gut aus dem Weg gehen konnte. Bei meiner Mitreise waren 36 Leute auf dem Schiff. Das waren ausgesprochen viele, weil darunter auch sechs Lehrlinge waren, was nicht der Norm entsprach. Ich war die einzige mitreisende Ehefrau. Dann gab es noch eine Rentnerin aus Leipzig, die mit ihrem Ehemann eine Urlaubsreise machte, denn das war für ältere Leute der DDR nach Eintritt in die Altersrente möglich. Es war allerdings kaum bekannt, dass man auf diese Weise sehr preisgünstig reisen konnte. Außer dem stieg in Hamburg noch ein Westberliner Rentner zu, der eine der zwei Passagierkabinen bewohnte, die es auch auf diesem Schiff gab. Es gab noch zwei Stewardessen an Bord, also insgesamt vier weibliche Wesen bei einer Überzahl von 30 Männern. Eine der Stewardessen war liiert mit einem Seemann, der auch mit auf dem Schiff war, und so stand also nur eine einzige Frau, eine sehr übergewichtige Stewardess, um das gelinde auszudrücken, den restlichen Männern zur Wahl. Mehr möchte ich an dieser Stelle zu diesem Thema nicht sagen.
Es wurde an Bord nie langweilig. Ich teilte mir mit meinem Ehemann eine Mannschaftskajüte, die ich gemütlich eingerichtet hatte. Bei meiner ersten Mitreise war mein Mann noch Vollmatrose, bevor er zu Seefahrtsschule ging. Ich kenne also auch die Vorzüge und Nachteile einer Offiziersfrau. Dazu kann ich nur sagen, dass jede Mahlzeit in der Mannschaftsmesse sehr lustig war, während ich in der Offiziersmesse fast meine Schnittchen geschmiert bekam, es aber dafür selten ein fröhliches Tischgespräch gab. Außer dem galten dort strenge Regeln zur Sitzordnung und ähnliches Theater.
Whisky und Kekse in allen Kajüten
Für die Abwechslung an Bord gab es einen Swimmingpool, zwei mal Kino pro Woche, eine Bibliothek, und wenn eine Luke frei war, konnte Tischtennis oder sonst was gespielt werden. Ich durfte auf dem Schiff überall herum spazieren, vom Peildeck bis zum untersten Maschinenraum. Donnerstag war Seemannssonntag - da gab es Kuchen zur Kaffeezeit - eben wie am Sonntag. Es ist wohl klar, dass man an Bord nur Köche und Bäcker duldete. Es wurde schließlich nicht wenig gefeiert, auf Reede oder im Hafen. Bei schönem Wetter wurde an Deck gegrillt und bei schlechterem Wetter gab es in der Messe ein fantastisches Büfett. Es wurde geschmückt, gespielt und getanzt. Beim Lumpenball gab die Putzlappenkammer genügend Material her, um sich Kostüme zu kreieren; und die gut ausgebildeten Seeleute der DDR-Rederei waren vielseitig und erfindungsreich. Mit ihren 200 Schiffen waren sie auf den Weltmeeren beliebt, bekannt für ihre Zuverlässigkeit und Termintreue. Vor allem aber zählte bekanntermaßen eine ordnungsgemäße Frachtübergabe zu deren Vorzügen. Es gab also wenig Schwund. Da konnte sich schon mal einer leisten gegen einige Kisten zu treten, die dann entsorgt werden mussten. Und so gab es auf der Fahrt über den Atlantik in allen Kajüten Whisky und Kekse, ein besonderer Schmaus.
Das alles klingt heute wie ein Märchen, und das war es auch: märchenhaft. Manchmal haben wir auf Reede geangelt. Ich mit einem Bindfaden habe sogar Kalmare gefangen, die wir dann anschließend grillten; und das ist KEIN Seemannsgarn. Heute finde ich das nicht mehr lustig, weil diese Tierchen sich so einfach fangen ließen und sich mit dem Ausstoßen ihrer Tinte so sehr wehrten. Das Auswaschen war wirklich eklig. Noch bin ich nicht ganz Vegetarierin, aber vielleicht bald..
Es gäbe noch viel zu erzählen, aber so ist das ja wohl, wenn eine Reise tut. Unser Seemannsfrauenaktiv hatte so etwas wie ein Tagebuch- oder Gruppenbuch und da steht meine Mitreise auch drin und ebenso die Fahrten anderer Frauen. Möglicherweise liegt dieses Buch heute beim Marine-Verein in Halle. Die fröhliche Seefahrt, die gab es wohl überhaupt nur für DDR – Seeleute. Und heute wird immer noch gefeiert, an Land. Jährlich finden in mehreren Städten Treffen statt, bei denen in Erinnerungen geschwelgt wird und Bücher über Bordgeschichten häufen sich mittlerweile. Einmal wurden die Seemannsfrauen vom Aktiv sogar im Fernsehen vorgestellt - in der vom Studio Halle produzierten Sendung „Im Krug zum grünen Kranze“. Das war 1986. Und das Motto dieser Sendung war – Sie werden es nicht glauben – „Wir schiffen uns ein.“ In diesem Sinne
Ahoi!
Ihre Monika Heinrich
Ein herrlicher Bericht!
Als ehemaliger Seemann der DSR kann ich das nur bestätigen, es war jedes Mal ein Höhepunkt wenn ein Seemann seine Frau mitnehmen durfte. Ich hatte auch einmal das Vergnügen, meine Frau eine Mittelmeer Reise mit an Bord zu haben. Einfach unvergesslich war das!