Der frem­de Freund erzählt vom Krieg

Chris­toph Hein ist in die­sem Jahr 75 Jah­re alt gewor­den und sein Bilanz­text zu die­sem Anlass ist erfreu­li­cher Wei­se kei­ne Auto­bio­gra­fie, son­dern eine Anek­do­ten­samm­lung. Die Unter­zei­le „Anek­do­ten aus dem letz­ten deutsch-deut­schen Krie­ge“ weist auf Hein­rich von Kleists „Anek­do­te aus dem letz­ten preu­ßi­schen Krie­ge“ hin. Bei Kleist wird der Besieg­te zum Sie­ger, wenn auch nur in einer Epi­so­de des Rückzugs.

Chris­toph Hein hat es gleich mit zwei Krie­gen zu tun: dem Kal­ten Krieg der Super­mäch­te bis 1990 und dem "deutsch-deut­schen Krie­ge" seit­dem, des­sen Cha­rak­te­ri­sie­rung Hein hier näher kom­men will. Das Fremd­wör­ter­buch beschreibt die Anek­do­te als eine kur­ze, oft in einer hei­te­ren oder uner­war­te­ten Wen­dung gip­feln­de, für jeman­den oder etwas beson­ders cha­rak­te­ris­ti­sche Geschich­te (meist über eine his­to­ri­sche Per­sön­lich­keit, aber auch über eine Bege­ben­heit oder Epo­che). Die Per­sön­lich­kei­ten in Heins Anek­do­ten sind West­ber­li­ner Taxi­fah­rer, eine Düs­sel­dor­fer Schau­spiel­haus-Abon­nen­tin, Münch­ner Café­haus-Besu­cher und DDR-Bür­ger bei der Abho­lung ihres "Begrü­ßungs­gelds".

Bege­ben­hei­ten sind es alle­mal: etwa die ille­ga­le Paris­rei­se drei­er Ost­ber­li­ner Schau­spie­le­rin­nen und die Sehn­süch­te ihres Ein­ge­sperrt-Seins, die Ent­zwei­ung mit dem Jugend­freund Tho­mas Brasch, die end­lo­sen Zer­re­rei­en um Gegen­warts-Dra­ma­tik in der DDR und der "Gegen­lausch­an­griff", der dem Buch sei­nen Namen gibt.

Man­fred Krug zeich­ne­te 1976 eine Dis­kus­si­on von Schrift­stel­lern und Künst­lern mit Staats­funk­tio­nä­ren über die Bier­mann-Aus­bür­ge­rung heim­lich auf. Sei­ne pri­va­te Band­auf­zeich­nung wur­de so zu einem ande­ren Lausch­an­griff, dem auf einen Staat, der sich mit Vor­stel­lun­gen eines demo­kra­ti­schen und wirt­schaft­lich funk­tio­nie­ren­den Sozia­lis­mus extrem schwertat.

Chris­toph Hein arbei­te­te sich in der DDR sehr an den The­men Buch- und Büh­nen­zen­sur, sowie der ideo­lo­gi­schen Kom­man­do­wirt­schaft ab. Dabei kam ihm das völ­lig ande­re Lite­ra­tur­ver­ständ­nis im Lese­land DDR ent­ge­gen. Wäh­rend die Ost­ber­li­ner Staats­füh­rung die Lite­ra­tur als Seis­mo­graph der gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung und damit als Maß­stab für die Wirk­sam­keit ihrer Poli­tik betrach­te­te und ent­spre­chend ernst nahm, war und ist Bel­le­tris­tik in der Bun­des­re­pu­blik ein eher ertrags­schwa­ches Kommerzprodukt.

Chris­toph Heins Erfolgs­re­zept ist die rasan­te Fahr­stuhl­fahrt zwi­schen Fremd­heit und Empa­thie, wäh­rend äußer­lich linea­re Geschich­ten erzählt wer­den: von Freund­schaf­ten und Hoff­nun­gen, Auf­stie­gen und Fäl­len. "Der frem­de Freund" hieß sein ers­ter Roman, der so nur in der DDR funk­tio­nie­ren konnte.

Von Krie­gen kennt man übli­cher­wei­se das "Ausbruchs"-Datum. Der "letz­te deutsch-deut­sche" trat wohl zuerst offen am 4. Novem­ber 1989 auf dem Ber­li­ner Alex­an­der­platz zuta­ge. Wäh­rend die erneu­er­te Par­tei- und Staats­füh­rung vor einer hal­ben Mil­li­on Men­schen das Signal "Wir haben ver­stan­den" aus­zu­sen­den ver­such­te, sen­de­te die ARD "pro­gramm­treu" ein Ten­nis­tur­nier mit Boris Becker. Von Stun­de an wur­de alles Leben in der DDR nach­träg­lich dele­gi­ti­miert und entwertet.

Die Treu­hand­an­stalt ver­ramsch­te unter mas­si­ver ideo­lo­gi­scher Schüt­zen­hil­fe das Volks-Staats­ei­gen­tum, ein gna­den­lo­ser „Auf­bau Ost“ bau­te eine Men­ge Infra­struk­tur auf, zer­stör­te aber eine gut funk­tio­nie­ren­de Kul­tur­sze­ne. Ein Büh­nen- und Orches­ter­ster­ben ohne Bei­spiel fand statt. Ost- und West-Insti­tu­te und -Aka­de­mien wur­den mit­tels "Schrot­ge­wehr­hei­rat" ver­ei­nigt. Ein "Eli­ten­aus­tausch" wur­de ein­ge­lei­tet, der kaum einen Ost­deut­schen in Füh­rungs­funk­tio­nen beließ, DDR-Kunst wur­de durch „rich­ti­ge Kunst“ ersetzt.

Für kirch­lich Enga­gier­te kam die Stun­de der Nie­der­la­ge, als die Kir­chen­steu­er wie­der vom Staat ein­ge­zo­gen wur­de. Im Osten Deutsch­lands brö­ckel­ten kirch­li­che Bin­dun­gen noch schnel­ler als im Wes­ten, Cari­tas und Dia­ko­nie beschä­dig­ten das Anse­hen kirch­li­chen Enga­ge­ments zusätzlich.

Schlimm war auch der Umgang mit dem schon in der DDR in Ansät­zen vor­han­de­nen Rechts­ex­tre­mis­mus, dem 1992 nur das west­deut­sche V-Män­ner-Sys­tem über­ge­stülpt wur­de. Aus Ver­fas­sungs­schutz-Mit­teln ali­men­tier­te Neo­na­zis woll­ten lie­ber Schre­cken ver­brei­ten, als Mit­leid zu erre­gen, etwa in Mölln und Ros­tock-Lich­ten­ha­gen. Das "betreu­te Pöbeln" ging naht­los in "betreu­tes Mor­den" über.

Die "aller­letz­te Schlacht des Krie­ges" aber ende­te mit einer Rede Dr. Theo Wai­gels anläss­lich des Abschieds­emp­fangs des Ver­wal­tungs­ra­tes der Treu­hand­an­stalt am 8. Dezem­ber 1994. Zurück blie­ben eini­ge äußer­lich ansehn­li­che Ko(h)lonien mit ver­brann­ter Erde in Wirt­schaft und Kulturpolitik.

Für Chris­toph Hein soll­te es noch schlim­mer kom­men, denn Epi­so­den aus sei­nem Leben wur­den (zusam­men mit Ver­satz­stü­cken aus den 1950er Jah­ren) von Flo­ri­an Henckel von Don­ners­marck in des­sen Film „Das Leben der Ande­ren“ ver­wurs­tet. In dem Text „Mein Leben, leicht über­ar­bei­tet“ beschreibt Hein, wie er die Deu­tungs­ho­heit über sein eige­nes Leben ver­liert, weil es nicht sein darf, dass ein Schrift­stel­ler in der DDR nicht nur Sta­si, son­dern auch Geschich­te und Kul­tur zu sehen vermag.

 

Foto oben: ©CC BY-SA 4.0 / Hei­ke Hus­la­ge-Koch / wiki­me­dia Commons

 

„Gegen­lausch­an­griff. Anek­do­ten aus dem letz­ten deutsch-deut­schen Krie­ge“ von Chris­toph Hein | Suhr­kamp-Ver­lag 2019 (14,- €)

 

 

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