Auf den ersten Blick scheinen die Hallenser Stadtentwicklungsplaner alles richtig gemacht zu haben. Sie haben ein Hohelied auf die Stadt und ihre Möglichkeiten entworfen, die Voraussetzungen ordentlich analysiert, die Bürgerinnen und Bürger einbezogen, Visionen entwickelt …
„Der Dreiklang Kultur-Wirtschaft-Wissenschaft bildet die fundamentalen Triebkräfte der Stadtentwicklungsvision und damit den Kompass der weiteren Entwicklung der Stadt. Der Dreiklang beruht auf einer starken Basis, die die notwendige Balance zwischen den drei Bereichen sicherstellt und sich an den Kriterien der Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit ausrichtet. Als lebens- und liebenswerte Stadt der kurzen Wege, als grünste Großstadt in Deutschland, die sich ihrer globalen Verantwortung bewusst ist, und als traditionsreiches und weltoffenes Bildungszentrum soll Halle (Saale) in Richtung 2025 und darüber hinaus geführt werden.“ (ISEK 2025, S. 23)
Wie viel hat das, was ich da in oft hochgestochener Sprache auf 344 Seiten lese mit der Stadt, in der ich lebe, zu tun? Der Stadt, in der die parkenden Autos die Straßen verbarrikadieren, in der Radfahren lebensgefährlich ist, der Stadt, die nachts nicht schlafen kann, weil die vom Nachtflugverbot ausgenommenen DHL-Frachtflugzeuge über sie hinweg dröhnen? In der die Hälfte der städtischen Shoppingmeile von 1-Euro-Läden und Barbier-Geschäften bestimmt wird?
Urbanisierung als Megatendenz
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten, in Deutschland sind es rund 75 % der Einwohner. Statistische Erhebungen belegen einen ungebrochenen Trend zur urbanen Migration. Es entstanden in relativ kurzer Zeit gigantische Städte mit ganz eigenen Problemen der Infrastruktur, der Ökonomie und Ökologie, der Bevölkerungsentwicklung usw.
Auch in Deutschland wachsen die Städte, wenngleich nicht alle. Halle etwa zählte lange Zeit zu den schrumpfenden Städten. Bis zu Wende 1989 lebte die Stadt von der nahen Chemieindustrie. Ein ganzer Stadtteil, Halle-Neustadt, war in den 60er Jahren gebaut worden, um die Arbeiter aus den Chemiebetrieben Leuna und Buna unterzubringen. Als die DDR-Chemieindustrie abgewickelt wurde, brach der lokale Arbeitsmarkt zusammen und viele Leute siedelten in den Westen über.
Warum ISEKs?
In Deutschland unterstützt erfreulicherweise der Staat die Stadtentwicklung im Rahmen der Städtebauförderung finanziell (nach GG 104 B) und auch inhaltlich. Der Bundesanteil liegt bei einem Drittel, die weiteren Mittel kommen von den Ländern und Gemeinden. ISEK gilt als ein zentrales Instrument der Städtebauförderung. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) hat eine Arbeitshilfe für die Kommunen herausgegeben, in der die Schritte und Ziele dargestellt werden. Sie kann als Vorlage und Entwicklungshilfe verwendet werden. (Kein Wunder, dass die ISEKs verschiedener Städte einander ähneln.) Ein ISEK ist eine Art Rahmenplan, der auf der Grundlage einer Analyse des IST-Zustandes die Ziele und Leitlinien der Stadtentwicklung darstellt. Einzelne Projekte werden in sog. Fachkonzepten umgesetzt.
In Halle heißt es ISEK 2025 (ja, wir denken fünf Jahre weiter als Karlsruhe). Das ISEK 2025 startete 2013 mit einem Beschluss des Stadtrates, das vorangegangene ISEK 2007 zu ersetzen, weil sich die demografische Situation geändert hatte. Bis Mai 2016 wurde von der Verwaltung ein Entwurf von 344 Seiten erstellt, den der Stadtrat in großer Eile diskutieren und absegnen musste, denn das Zeitfenster bis zu Antragsstellung war klein. Eine zentrale Anforderung an ein ISEK sind Bürgerbeteiligung und Transparenz. Daher sind die Unterlagen zugänglich zu machen. Sie wurden 2016 in Halle in Papierform zur Einsicht ausgelegt und danach im Internet zur Verfügung gestellt. Vom Mai 2016 bis zum 15. Juli 2018 hatten die Bürger der Stadt noch die Möglichkeit, via Internet Vorschläge zu einzelnen Themenbereichen einzubringen.
Die Entwicklung in Halle
Die Bevölkerung der Saalestadt schrumpft nicht mehr. Seit 2015 wächst sie sogar wieder, vor allem durch den „Zuzug“ von Flüchtlingen aus Syrien. Damit ist auch die Diskussion um den Abriss der „Platte“ (Anspielung auf die Bauweise) vom Tisch. Vielmehr werden die Wohnungen in den Neubeugebieten Halle-Neustadt und Silberhöhe nun Teil des im ISEK festgeschriebenen Bestrebens, bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen. Das ist Teil des bemerkenswert sozialen Herangehens an den Aspekt Demografie. Dazu gehört auch das Ziel, für eine gute soziale Durchmischung der Stadtteile sorgen zu wollen, das Gegenteil von Gentrifizierung also.
Halle beschwört als große strategische Leitvision den sog. Dreiklang Kultur-Wirtschaft-Wissenschaft. Zur Kultur gehört auch der Bereich Bildung: Die Stadt beherbergt eine Kunsthochschule (Burg Giebichenstein) und eine Universität. Beide ziehen tatsächlich viel junges Publikum in die Stadt, was ihr überaus wohltut. Für die Studenten und Absolventen (wenn sie bleiben) muss der Wohnraum bezahlbar sein.
Auch die freie Kunstszene wird als wichtiger Teil der kulturellen Attraktivität der Stadt benannt. Ihre Förderung ist ein strategisches Ziel („Weitere Ausgestaltung der kommunalen Unterstützung der freien Szene durch schrittweise deutliche Anhebung der Unterstützung im Kulturhaushalt und Erhalt von Freiräumen für Kreative“).
Umwelt
Natürlich möchte Halle zur Umsetzung der Klimaziele beitragen. Dass dazu über den Autorverkehr in der Stadt nachgedacht werden muss, ist klar. Da finden sich im ISEK 2025 allerdings schwammige Aussagen: „Mit Mobilitätsalternativen wird versucht den motorisierten Individualverkehr zu reduzieren. Vorhandene Verkehrsanlagen werden bedarfsgerecht umgebaut. Dort wo eine Begrünung möglich ist, soll diese auch umgesetzt werden.“ (ISEK 2025, S. 23) Halle hat ein gut ausgebautes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln. Aber die Preise! Eine Abschaffung der „Beförderungsgebühr“ würde wirklich und nachhaltig zur Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs beitragen. Auch die gefeierte Ansiedlung von Unternehmen der Logistikbranche in Halles neuem Industriepark (Star Park) trägt nicht zu einer positiven Entwicklung in Sachen Verkehr, zur Reduzierung klimaschädliche Abgase usw. bei.
In welcher Stadt lebe ich also?
In beiden: der ISEK2025-Stadt und der räudigen Alltagstadt, in der sich die Eingeborenen mit „Na, Meener“ begrüßen und HartzIV ein Beruf ist. Das ISEK 2025 mit all seinen löblichen Ansätzen scheint mir dann so abgehoben, kopfig, während ich mich in Lebensgefahr zwischen den Baustellen durchzwänge und den Blickkontakt mit den unsäglichen Plakaten des Stadtmarketing vermeide. Die sozialen Ansätze des Konzeptes sind beachtlich und gut, die wirtschaftlichen überambitioniert, die ökologischen hingegen „unterambitioniert“.
Der Artikel erschien 2018 als Gastbeitrag in unserem Partnermagazin "DRUCKSCHRIFT" unserer Partnerstadt Karlsruhe