Etwas wie Sacrifice von Sarah Nemtsov und Dirk Laucke habe ich noch nicht erlebt. So ungefähr muss es den alten Griechen ergangen sein, als sie im Amphitheater Klängen, Bühneneffekten und Schauspiel ausgesetzt waren. Nur dass am Ende nicht ähnlich wie beim Gottesdienst eine gemeinschaftliche Läuterung erfahren wird. Vielmehr krallt sich jeder einzelne Zuschauer an seinem Stuhl fest und erlebt die Katastrophe für sich allein. Seltsam, wie sich dabei die Körpersprache ähnelt.
Ausgangspunkt des Auftragswerkes war die dokumentarische Geschichte über zwei junge Mädchen, die sich auf den Weg zum IS nach Syrien begeben hatten. Die Komponistin findet eine zeitgenössische neue Klangfarbe, indem sie Musiken des Rock und Pop in ihr Werk einbezieht und mit Klangeffekten verfremdet. Sie sei stark an Theater interessiert und habe sich auf einen „Prozess der Kollaboration“ mit dem Autor Dirk Laucke und den Bühnenakteuren eingelassen, heißt es im Vorgespräch. Der Text erzählt vier Bühnenhandlungen gleichzeitig und in Splittern. Da ist das mittelalte Mittelklasse-Ehepaar und ihre Reaktion auf die „Flüchtlingsströme“. Während er (im Friedenstauben-T-Shirt) die Neuankömmlinge freigiebig ins Haus holt, himmelt sie (im ordentlich langen, braunen Rock) AFD-Schönling Poggenburg im Fernseher an. Sie hat keinen Text, aber ihr Jammern und Schmachten spricht eine deutliche Sprache. Und dann sind da die Journalisten, die auf der Frontlinie diskutieren, welche Bilder dem Heimatpublikum und den Dargestellten zuzumuten sind. Hier ist sozusagen das Sprech-Drama in die Oper eingebettet. Am berührendsten wirkt der Flüchtende, dargestellt und gesungen von Gerd Vogel. Auch hier keine Worte. Stattdessen ein Meer aus Seufzen und Stöhnen. Die Stimmen der jungen Frauen dagegen künden von Weltschmerz und Sehnsucht nach Sinn.
Donner und Blitz
Das Publikum sitzt auf der Drehbühne und wird von Schauplatz zu Schauplatz gefahren. Wir verfolgen den Weg der künftigen Djihadistinnen und geraten dabei ins Kriegsgebiet. Über uns kreist eine Drohne. Minutenlang können wir auf den überall angebrachten Monitoren verfolgen, wie uns die selbstfliegende Bombe ins Fadenkreuz nimmt. Ich sitze in der dritten Reihe. Jetzt bin ich in ihrer Reichweite und über mir Motorenlärm. Dann kommen plötzlich von oben Scheinwerfer heruntergefahren. Das Licht ist so grell, dass ich die Augen schließen muss. Und neben mir die akustischen Bombeneinschläge. Unwillkürlich kauere ich mich zusammen, Kopf zwischen den Schultern. So fühlt sich Krieg an. So ist es meinem Großvater ergangen in den letzten Minuten seines Lebens. So etwas erleben Flüchtende. Die Scheinwerfer werden abgestellt und das Orchester langsam in den Bühnenboden gefahren. „Der Untergang des Abendlandes“, ist mein nächster Gedanke.
Das neue Team an der Halleschen Oper hat sich zum Ziel gesetzt, das angestaubte Genre Oper ins 21. Jahrhundert zu tragen. Oper sei bis zum Beginn der Moderne revolutionär und politisch gewesen, erklärt Chefdramaturg Michael von zur Mühlen. Durch das Darstellen von Radikalisierungsprozessen innerhalb unserer Gesellschaft und ihr Auseinanderbrechen soll sie es wieder werden. Man wolle sich der Wirklichkeit stellen und emanzipatorisches Potential zeigen. „Erzählen jenseits von Verteufelung“, so bezeichnet von zur Mühlen dieses Konzept. Das Gesamtkunstwerk Sacrifice, Ergebnis einer Kollaboration, wird späteren Generationen von unserer Zeit künden. Vorausgesetzt die Welt geht nicht unter.
Nächste Vorstellungen am 18., 22. und 23. Juni 2017, jeweils 19.30 Uhr im Opernhaus
http://buehnen-halle.de/sacrifice#!/
zuerst erschienen in hallesche störung – Magazin für andere Ideen Mai 2017
Foto: Falk Wenzel