Der britisch-kanadische Autor und Journalist Doug Saunders hat sich über viele Jahre mit den großen nationalen und internationalen Migrationsbewegungen der in der neueren und neuesten Geschichte befasst und ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich im Wesentlichen um eine Migration vom Land in die Stadt handelt und dass sie überwiegend positive Folgen haben wird – wenn man richtig mit ihr umgeht.
Zwei Bücher hat Saunders dazu geschrieben: Arrival City: How the Largest Migration in History is Reshaping Our World und The Myth of the Muslim Tide. Do Immigrants Threaten The West? (beide auch auf Deutsch erschienen: Arrival City. Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab. Und: Mythos Überfremdung: Eine Abrechnung).
Vom armen Land in die reichere Stadt
In Arrival City durchleuchtet Saunders die Gründe für die großen Migrationsbewegungen der Neuzeit: Eine verarmte Landbevölkerung (der größte Teil der als extrem arm geltenden Menschen lebt auf dem Land) zieht aus Überlebensdruck in die Städte, schafft sich mit viel Energie (wenn die Umstände nicht zu widrig sind) eine neue Existenz und hält mit Geldtransfers das Dorf am Leben. Sowohl nationale als auch internationale Migration ist eine Bewegung vom Land in die Stadt. In den großen Städten entstehen Ankunftsstädte („arrival cities“), in denen sich Netzwerke bilden, die es Neuankömmlingen erleichtern, eine Unterkunft und auch Arbeit zu finden. Dazu bedarf es entsprechender Strukturen. Sind die gegeben, so zeigt sich, dass es den „Neustädtern“ es schnell gelingt, sich aus eigener Kraft ein Auskommen zu schaffen.
Upward Mobility
Sie sind oft genug soziale Aufsteiger (im Englischen gibt es dafür den schönen Begriff der „upward mobility“), finden bald ihren Weg in die Bildungs- und Politeliten. Der Autor hat arrival cities und mehr oder weniger verlassene Dörfer in der ganzen Welt bereist, mit MigrantInnen gesprochen, ihre Schicksale kennengelernt und festgehalten, immer vor dem Hintergrund der Fragen, warum Migration stattfindet und wie sie gelingen kann. Sein Fazit: Migration ist unumgänglich. Wenn wir sie gut verstehen und begleiten, dann kann sie zum Nutzen aller erfolgreich sein. Urbanisierung wird hier als große soziale und ökologische Chance verstanden, indem sie die extreme Armut reduziert, Zugang zu Bildung, Gesundheit und ausreichender Ernährung bietet, durch geteilte Ressourcen und verkürzte Wege sowie sinkende Geburtenraten den Druck auf die Umwelt verringert.
Lehrreicher Blick auf die Geschichte
In The Myth of the Muslim Tide geht Saunders der Islamfeindlichkeit und den populären Überfremdungsängsten auf den Grund: Sind die Muslime auf dem besten Wege, unsere westlichen Gesellschaften zu übernehmen? Der Zugriff auf das Thema ist zunächst ein historischer: Der Autor zeigt, dass auch frühere Einwanderungswellen von solchen Ängsten begleitet waren: Die italienischen katholischen Einwanderer galten in den Vereinigten Staaten als Bedrohung von Kultur und Ordnung und ebenso die irischen (auch katholischen) Einwanderer in Großbritannien … und zwar mit eben den Begründungen, wie wir sie heute vernehmen. Spätestens in der dritten Generation führen soziale Ausgleichsprozesse dazu, dass die Fremdheit (und mit ihr die Abwehr) schwindet. Einwanderer (eben auch Einwanderer muslimischen Glaubens) passen sich in ihren Lebensformen allmählich ihrem Umfeld an.
Was ist unsere Rolle? Geduld haben und die Vorgänge des Ankommens und Neu-zu-sich-Findens unterstützen.
Was ist dran an den Ängsten?
Saunders diskutiert zentrale Glaubenssätze und Ängste der Anti-Islam-Front: z.B. dass die muslimischen Bevölkerungsanteile in Europa besonders stark und schnell wüchsen und bald eine Mehrheit erreichen würden. Das sei statistisch nicht zu belegen. Zum einen nähere sich die Geburtenrate in den islamischen Herkunftsländern der in den Ländern des Westens an und zum anderen sei die Geburtenrate viel weniger ein religiös als sozialökonomisch begründet.
Auch die Frage, ob muslimische Immigranten den islamischen Extremismus "einschleppen" würden, wird diskutiert: Dabei greift Saunders auf Untersuchungen unter anderem von amerikanischen Geheimdiensten zurück, die ergeben, dass es keineswegs junge Männer aus besonders religiöser Umgebung sind, die sich zum islamischen Extremismus hingezogen fühlen, sondern dass es vielmehr Brüche in den Biographien sind, die zur Radikalisierung führen.
Migration gestalten
Nach Saunders Auffassung ist diese Migration nicht nur unvermeidlich, sondern sogar notwendig. Sie bringe Austausch und Erneuerung in stagnierende Umgebungen. In unserem Jahrhundert werde der Vorgang abgeschlossen sein. Dann würden sich die sozialen Verhältnisse stabilisieren, sowohl in den Städten als auch auf dem Land. Saunders argumentiert dabei nicht moralisch, sondern soziologisch. Seine Botschaft: Migration kann und muss gestaltet werden: Von ihrem Erfolg oder Misserfolg hängt der soziale Frieden in unseren Gesellschaften ab. Weltweit.