Kei­ne Ent­war­nung. Der Anschlag auf die Syn­ago­ge in Hal­le vor drei Jahren

Hal­le, 9. Okto­ber 2019. Gegen 12.45 Uhr will ich mit dem Rad eine Kreu­zung über­que­ren, da rast ein Poli­zei­au­to her­an, bei Rot ohne Mar­tins­horn und Blau­licht, weicht mir im letz­ten Moment aus. Zum Bahn­hof unter­wegs vie­le Poli­zei­au­tos, abge­sperr­te Stra­ßen, Heli­ko­pter über der Stadt. Schwer bewaff­ne­te Behelm­te rie­geln den Bahn­hof ab. Laut­spre­cher: „Wegen poli­zei­li­cher Ermitt­lun­gen ist der Zug­ver­kehr ein­ge­stellt. Ver­las­sen Sie im Inter­es­se eig­ner Sicher­heit nicht das Gebäude!“

Wer hin­aus­geht, darf nicht wie­der her­ein. Etwa 30 Leu­te in der Lounge; sie tele­fo­nie­ren, schrei­ben Kurz­nach­rich­ten und ver­fol­gen die Brea­king News von n-tv am WandBildschirm.
Bekann­te tref­fe ich, die in die Ham­bur­ger Elphi wol­len. Ich will nach Leip­zig zur Geburts­tags­fei­er mei­ner Toch­ter. Sie ruft auf­ge­regt an, bit­tet mich, nicht zu kom­men, auch ande­ren Gäs­ten habe sie abge­sagt; in Leip­zig schös­sen Ter­ro­ris­ten aus geklau­ten Taxis wahl­los auf  Leu­te. Kaum zu glau­ben, doch gibt es ja Nach­rich­ten von ver­schwun­de­nen Waf­fen bei Bun­des­wehr und Poli­zei, und weiß man gar nicht, was los ist.
„Anschlag auf Hal­le“ – wor­an denkt man da! Wie vie­le Täter es sind, ist noch unge­wiss. Von sie­ben Toten und 70 Gei­seln ist die Rede. Die Poli­zei spricht von Amok-Lage, appel­liert, Woh­nun­gen nicht zu ver­las­sen, siche­re Orte auf­zu­su­chen, von Fens­tern und Türen fern­zu­blei­ben. Wer mit Ange­hö­ri­gen spricht, hört von einer Stadt im Aus­nah­me­zu­stand, gespens­ti­scher Ruhe; weder Bus- noch Stra­ßen­bahn­ver­kehr; alle Zufahrts­stra­ßen im Groß­raum gesperrt.
Nun wird von einem flüch­ten­den „mut­maß­li­chen Ein­zel­tä­ter“ aus­ge­gan­gen, von zwei Toten und zwei Ver­letz­ten bei Schüs­sen an der Syn­ago­ge und bei einem Döner-Bis­tro, wo jemand den Schie­ßen­den gefilmt hat. Dort bin ich nur ein paar Minu­ten spä­ter vorbeigekommen.
15.40 Uhr wird die Fest­nah­me einer Per­son gemel­det und die Ein­lie­fe­rung zwei­er Ver­letz­ter ins Kran­ken­haus. Die Bun­des­an­walt­schaft ermit­telt wegen Mor­des. Der Minis­ter­prä­si­dent Sach­sen-Anhalts sagt eine Rei­se nach Brüs­sel ab. Die Nach­richt „Tür­kei star­tet Offen­si­ve in Nord­sy­ri­en“ bleibt fast unbeachtet.
Immer wie­der äußert sich der Zeu­ge vom Döner-Bis­tro. Stän­dig wird die aus einer Woh­nung gefilm­te Sze­ne gezeigt: Der schwarz­ge­klei­de­te behelm­te Mann steigt aus dem Auto, schießt um sich. Gegen 16.40 Uhr gilt als sicher, dass eine Frau in der Nähe der Syn­ago­ge und ein Mann vor dem Döner-Bis­tro getö­tet wor­den sind.
Noch ist unklar, ob es wirk­lich ein Ein­zel­tä­ter ist. Wir hören von Schüs­sen in Wie­ders­dorf bei Hal­le, von der Erpres­sung eines Taxis zur wei­te­ren Flucht. „Der Gene­ral­bun­des­an­walt zieht die Ermitt­lun­gen an sich.“ Die Zahl der Men­schen, die sich in der Syn­ago­ge auf­hiel­ten als der Täter ver­such­te, die Tür zum Grund­stück auf­zu­schie­ßen, ist auch noch nicht genau ermit­telt. Bus­se hät­ten sie an unbe­kann­te Orte gebracht. War­um war die Syn­ago­ge unbe­wacht zum Ver­söh­nungs­fest Jom Kip­pur, dem höchs­ten jüdi­schen Fei­er­tag? (Eine vor­bei­fah­ren­de Zivil­strei­fe sah den Täter, fand sei­ne Mon­tur merk­wür­dig, mel­de­te aber nichts an die Zen­tra­le.) „Schlimm, dass wir die Tür ver­schlie­ßen muss­ten, aber gut, dass wir es taten“, sagt ein Mit­glied der jüdi­schen Gemein­de. Die Syn­ago­ge im Pau­lus­vier­tel, in Nach­bar­schaft „mei­ner“ Kirch­ge­mein­de. Was, wenn die Tür nicht stand­ge­hal­ten hät­te! Ich stel­le mir vor, wäh­rend der Christ­ves­per ver­such­te ein Ter­ro­rist, die Kir­che zu stür­men. Nie sind Kir­chen­tü­ren wäh­rend der Got­tes­diens­te abge­schlos­sen ... Die Sicher­heits­vor­keh­run­gen der Syn­ago­gen wer­den nun verstärkt.
Wie sehr inter­es­sier­te mich jüdi­sche Kul­tur? Von Jom Kip­pur wuss­te ich nichts. Der Anschlag wäre pas­siert, auch wenn Chris­ten in der Syn­ago­ge gewe­sen wären – aber man fei­ert nicht gegen­sei­tig die Got­tes­diens­te mit ...Aus­blick: Der Ver­bre­cher wird am 20. Dezem­ber 2020 nach 26 Ver­hand­lungs­ta­gen im Ver­lauf von fünf Mona­ten wegen zwei­fa­chen Mor­des und ver­such­ten Mor­des in 66 Fäl­len zu lebens­lan­ger Haft mit anschlie­ßen­der Sicher­heits­ver­wah­rung ver­ur­teilt – bei gro­ßer Medi­en­prä­senz. Das Gericht beruft sich auf ras­sis­ti­sche, anti­se­mi­ti­sche, frem­den­feind­li­che Moti­ve des Täters, der mög­lichst vie­le jüdi­sche Men­schen töten woll­te. Die Neben­kla­ge will klä­ren, dass der zwar ein­zeln han­deln­de Täter doch kein Ein­zel­tä­ter ist. Dass es struk­tu­rel­len all­täg­li­chen Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus gibt, die Mehr­heit der Gesell­schaft zu unkri­tisch und zu wenig wach­sam ange­sichts tief­sit­zen­der anti­se­mi­ti­scher Res­sen­ti­ments ist. Dass poli­tisch zu wenig geschieht gegen die Sub­kul­tur des Dun­kel­net­zes, wo Hass geschürt wird, sich Men­schen radi­ka­li­sie­ren, wo der Täter Bau­an­lei­tun­gen für sei­ne Waf­fen und Vor­bil­der fand. Sei­ne Angrif­fe fol­gen u. a. denen 2011 in UtØya, 2016 in Mün­chen, 2019 in Christ­church und Istha. Der Täter des Anschlags 2020 von Hanau wird sich mög­li­cher­wei­se an dem von Hal­le orientieren ...
Obwohl sei­tens der Neben­kla­ge ver­langt wird, sei­nen Namen nicht zu nen­nen, um sei­nen „Ruhm“ nicht noch zu ver­stär­ken, wird er immer wie­der in der ört­li­chen Pres­se genannt, wenigs­tens mit abge­kürz­tem Nach­na­men – in einem Bei­trag der Mit­tel­deut­schen Zei­tung vom 30.Mai 2022 sogar 15 Mal. (Der voll­stän­di­ge steht in der über­re­gio­na­len Pres­se und im Netz.) Auch sein Foto wird oft gezeigt: mal schwach, mal stark gepi­xelt. In über­re­gio­na­ler Pres­se und im Netz auch ungepixelt.
17.30 Uhr gibt es noch kei­ne Ent­war­nung. Ich wer­de heim­fah­ren, wenn bis 18 Uhr kein Zug fährt. Aber 17.50 Uhr wird eine S-Bahn nach Leip­zig ange­zeigt. Doch der Bahn­steig sei noch nicht frei­ge­ge­ben, sagt ein Mann, der mir begeg­net, er suche Skat­part­ner für die­wei­te­re War­te­zeit. Tat­säch­lich ist der Bahn­steig noch gesperrt, aber vol­ler Men­schen. Ein Zug fährt ein und, über­füllt, wie­der ab.
Die Geburts­tags­run­de begrüßt mich wie einen, der größ­ter Gefahr ent­ron­nen ist, und ich muss aus­führ­lich berich­ten. Die Audio-Nach­richt vom Taximör­der wird noch ein­mal ange­hört; sie hat für Schre­cken und Ver­wir­rung in Leip­zig gesorgt: Kin­der wur­den nicht
aus Schu­len und Kitas ent­las­sen, Ange­stell­te ver­lie­ßen nicht die Arbeits­plät­ze ... Hier wirk­te ein „sozia­les Netz­werk“ als Angst­be­schleu­ni­ger. Wur­den die seriö­sen Quel­len für Nach­rich­ten nicht genutzt? Zum Glück sei der Täter deut­scher Staats­bür­ger und kein Isla­mist, sagt jemand.

Schon heu­te zei­gen sich Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker „erschüt­tert“, „fas­sungs­los“, spre­chen von einer „ver­ab­scheu­ungs­wür­di­gen Tat“, „tief­klaf­fen­den Wun­de“, drü­cken den Fami­li­en der Opfer ihr Mit­ge­fühl aus. Mor­gen und über­mor­gen gibt es Got­tes­diens­te, Trau­er­be­kun­dun­gen an den Stel­len der Mor­de, welt­wei­te Soli­da­ri­tät, Demos vor Ort: „Nie wie­der!“, „Nazis kei­nen Zen­ti­me­ter!“, „Kein Platz für Rechts­ex­tre­mis­ten!“ Ist die Betrof­fen­heit authen­tisch und nach­hal­tig? Wird künf­ti­gen poten­ti­el­len Tätern wider­spro­chen, ener­gisch genug entgegengetreten?
Der Vor­sit­zen­de der jüdi­schen Gemein­de sagt, er hät­te das nie in sei­nem Leben erwar­tet: Die „nor­ma­len Men­schen in die­sem Land“ sei­en „in der abso­lu­ten Mehr­heit“ und das mache ihm Hoff­nung.“ Wie wird sich der Jüdisch-Christ­li­che Dia­log künf­tig gestalten?
Heu­te Nacht zurück in Hal­le wie­der ein Poli­zei­auf­ge­bot, aber nur ein klei­nes: Vor einem Haus wur­de eine hilf­lo­se Per­son gefunden.

Chris­toph Kuhn
Schrift­stel­ler, lebt in Halle

 

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