Eine Woche lang haben Studierende von fünf internationalen Hochschulen an Visionen für die Entwicklung des städtebaulichen Zentrums der Neustadt gearbeitet. Der spektakulärste Vorschlag: Wirtschaftlich betriebenes Stadtgärtnern in den leerstehenden Hochhausscheiben. Jörg Wunderlich sprach mit der Workshopleiterin, Frau Professor Angela Mensing-de Jong von der HTW Dresden, über das Projekt.
Wie kam es zum internationalen studentischen Städtebau-Workshop in Halle ?
Anlass ist das 50-jährige Jubiläum von Halle-Neustadt, die Auseinandersetzung mit dem städtebaulichen Erbe der Moderne und natürlich die Fragestellung, wie man dem unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen – demografischer Wandel und Schrumpfung – Rechnung trägt.
Wie erlebten Sie und die Studierenden die soziale, architektonische und städtebauliche Situation im Zentrum von Halle-Neustadt?
Wir haben ja selbst in der Neustädter Passage gearbeitet und dort Flächen vom Land zur Verfügung gestellt bekommen. Die Studierenden haben alle in Wohnungen in Halle-Neustadt gewohnt. Die vier seit Jahren leerstehenden Scheiben im Zentrum sprechen natürlich Bände. Da sind wir alle hilflos und wissen nicht recht, was wir machen können. Die Scheibe C gehört ja dem Land und da ist auf jeden Fall Handlungsbedarf. Der Wunsch besteht, das Objekt jetzt zu verkaufen, aber an jemanden, der es dann auch wirklich entwickelt und nicht nur wie die anderen Käufer Jahre oder Jahrzehnte liegen lässt.
An welcher Stelle tauchten beim Workshop die Konzepte von Urban und speziell 'Vertical Farming' auf?
In der Auseinandersetzung mit möglichen Nutzungsprogrammen – neue Wohnformen, Mischung von Wohnen und Arbeiten - ist auch generell die Idee Rückbau und in diesem Zusammenhang Urban Farming aufgekommen bei einer Gruppe. Dieses Thema lief dann auch unter dem Motto „Von Halle-Neustadt zu Neu-Dorf“. Da spielten dörfliche Gemeinschaften, aber auch das Thema Landwirtschaft in allen Formen eine Rolle. Ein Kollege hier von der HTW Dresden ist im Bereich Gartenbau wirklich Spezialist und hat bereits einen Forschungsantrag auf Bundesebene formuliert, so dass ich gesagt habe, wenn man hier Urban Farming nur so nett betreibt wie Michelle Obama im Weißen Haus, ist das zu wenig. Warum dann also nicht direkt in die Bausubstanz hineingehen und untersuchen, inwieweit das in größerem Maßstab wirklich möglich sein kann?
Vertical Farming ist ein Ansatz, der aus den Vereinigten Staaten kommt und auf der Frage basiert, wie in Megastädten zukünftig die Ernährung sichergestellt werden kann, wenn die Entfernung zu landwirtschaftlichen Flächen immer größer wird. Und in diesen eng bebauten Megacities bleibt tatsächlich oft nur der Weg in die Vertikale.
Halle-Neustadt besteht zwar aus Beton, ist nun aber wirklich alles andere als eine Megacity...?
Ausschlaggebend für ein Vertical Farming Projekt in Halle wäre er eher der Forschungsaspekt. Die Vorteile sind, dass man den Wasserkreislauf schließt, dass man viel weniger Wasser verbraucht, auch die Nährtsoffe, die man zuführt, wiedergewinnen kann. Aber ich muss natürlich die Pflanzen künstlich belichten, was auch Energie frisst. Es gibt im Moment nur kleinere Beispiele, weltweit noch kein einziges, das in einem größeren Maßstab, also z.B. in einem Hochhaus durchgespielt wurde, weil ich der Regal dafür natürlich einen Neubau vorsehen müsste. Und da könnte Halle mit der leerstehenden Bausubstanz vielleicht ein Experimentierfeld sein. Hier kann gehorcht werden und das Know How dann exportiert. An der MLU gibt es ja durchaus Fakultäten, die in diesem Bereich arbeiten.
Gibt es eine Fortsetzung der Projektarbeiten, die hier vor Ort begonnen worden und spielen Optionen für eine Realisierung dabei eine Rolle?
Die insgesamt 60 Studierenden, die an dem Workshop teilgenommen haben, kamen von fünf Hochschulen: Krakau, Gent, Göteborg, Dresden und Delft. Bis auf Göteborg führt jede Hochschule das Thema weiter. Hier in Dresden gibt zwei Studenten, die an dem "Vertikal Farming"Aspekt in ihrer Masterthesis weiter bearbeiten und auch versuchen, das technisch durchzuspielen. Es ist durchaus so, dass der Landesbetrieb, dem die Scheibe C gehört, der sie entweder selber entwickeln oder an den Investor bringen muss, an den Ergebnissen sehr interessiert ist. Es muss in jedem Fall in die Statik der bestehenden Bausubstanz eingegriffen werden. Im Moment geht es um die kleinteilige Struktur der Substanz. Das sind ja Studentenwohnungen gewesen. Wie können wir hier größere Raumzusammenhänge schaffen, die für die Bewirtschaftung dann einfacher sind? Das eigentliche Pflanzenexperiment würde auch dort gestartet werden. Dazu gibt es jetzt Voruntersuchungen. Aber welches Stockwerk mit welchen Klimazonen und welchen Pflanzen gefüllt würde, das können wir nur den Fachleuten überlassen.
vertical farming: vertikale Landwirtschaft,
z. B. in einem Hochhaus auf mehreren Etagen
urban farming: Landwirtschaft in der Stadt
urban gardening: Gartenbau in der Stadt