Lobbyismus, Basisferne, Korruption und Fraktionszwänge sind bekannte und zunehmend gefährliche Hinkefüße des bestehenden Parteiensystems. Eine bundesweite BI will engagierte Menschen ohne Parteibuch in den Bundestag bringen. Welche Chance bietet eine direkte Bürgerdemokratie mit Bürgerkandidaten für den Parlamentarismus? Die Politologin Dr. Tanja Täubner (TT) sprach mit Susanne Holbein (SH) und Almuth Strelow (AS) vom "Bürgerkomitee Kassel".
TT: Was für ein politisches Konzept wählen Kasseler Bürgerinnen, wenn sie ihre Erststimme auf dem Wahlzettel Susanne Holbein geben?
SH: Wir haben das Bürgerkomitee im November 2016 gegründet, weil unserer Meinung nach die Bürgermeinung im Bundestag mehr vertreten sein sollte. Das ist im Moment nicht so, wie wir es uns wünschen. Wichtig ist uns, dass die Unterschicht und die Mittelschicht mehr vertreten sind und dass die Menschen informiert werden, um sich dann eine Meinung bilden zu können, die auf mehr Wissen beruht, anstatt dass sie nur eine Stammtischmeinung vertreten.
TT: Können Sie das noch konkretisieren? Wie wollen sie zusammen mit den Bürgerinnen in Kassel direkte Demokratie über diese Form der ‚Bürgerkandidatin‘ ausüben?
SH: Das Ganze würde ich auch als ein Experiment ansehen wollen. Der klassische Weg in der heutigen Zeit ist, dass man über eine Webseite die Menschen informiert. Das heißt, dass die Themen, die in Berlin gerade anstehen und an denen man arbeitet, auf einer Website dokumentiert werden, und dass man auch Veranstaltungen durchführt, wo mit den Bürgern diskutiert und deren Meinung eingeholt wird. Wichtig finde ich, dass die ganzen „Für“- und „Wider“- Aspekte klar genannt werden. Denn nur wenn ich alle Informationen habe, kann ich mich wirklich entscheiden.
"Wir vermissen in Berlin ganz massiv Transparenz."
AS: Ich möchte dazu ergänzen, dass wir gerne Expertinnen einladen würden, denn es ist deutlich, dass kein einzelner Mensch in all diesen Bereichen, die in Berlin bearbeitet werden, ein Wissen haben kann. Wir vermissen in Berlin ganz massiv Transparenz, obwohl man ein bisschen über Abgeordnetenwatch.de oder LobbyControl.de nachvollziehen kann, was da passiert. Wir wollen versuchen, anders damit umzugehen. Es ist auf keinen Fall so gedacht, dass man einfach im Internet „ja“ oder „nein“ klickt, sondern es geht wirklich absolut um den Dialog.
TT: Sie sprechen damit ein wichtiges Moment an, nämlich dass Diskussionen nur in den Büros der Abgeordneten geführt werden und es im Bundestag zu Entscheidungen kommt, über deren Verlauf die Wähler erst durch die Tagesschau erfahren. Noch mal zurück zur Idee der Bürgerkandidaten: Heißt das, dass ich als Wählerin dann eine direkte Hotline in den Bundestag habe, weil mein Kandidat oder meine Kandidatin da sitzt und mich mit Informationen versorgt?
AS: Es ist uns seit November bis jetzt deutlich geworden, dass wir nicht die geniale Idee haben, aber man kann über die heutigen Medien sehr viel Informationsfluss geben. Und es könnten Links und Daten für Treffen auf der Website veröffentlicht werden, wie man in Diskussionsrunden kommt mit den Menschen, die sich für Politik einsetzen und mehr Demokratie leben wollen. Es geht also immer um das aktive Dabeisein.
TT: Damit diese Art Aktivität Durchschlagskraft haben kann, bräuchte es ja mehr als nur einen Bürgerkandidaten …
SH: Genau. In Deutschland gibt es derzeit 85 Bürgerkomitees, die sich gebildet haben und das Ziel auf weite Sicht wäre natürlich, dass sich in allen 299 Wahlkreisen solche Komitees bilden und man möglichst viele direkte Bürgerkandidatinnen und -kandidaten nach Berlin schicken kann. Dann würde es die Politik wirklich verändern, weil sich die Mehrheiten wirklich verschieben.
"Bei der Autobahnprivatisierung ist das Grundgesetz verändert worden, obwohl bei Umfragen 85 Prozent dagegen waren."
AS: Wenn dann mehrere Bürgerkandidatinnen und -kandidaten gewählt sind, kann man sich auch wieder zu Gruppen zusammenschließen, in denen man an Themen gemeinsam arbeitet oder diese aufteilen kann. Der ganz große Vorteil wäre ja, dass man nicht an einen Parteikonsens gebunden ist. Denn wenn man auf die letzten Entscheidungen guckt wie Autobahnprivatisierung, Glyphosat oder sonstige Sachen - bei dem einen hatten wir jetzt Glück, dass es durch viele Bürgerinitiativen abgewandt wurde. Aber bei der Autobahnprivatisierung ist das Grundgesetz verändert worden, obwohl bei Umfragen 85 Prozent dagegen waren. Wo das hinführt, wenn die Wirtschaftsinteressen permanent im Vordergrund stehen, ich glaube dafür braucht nicht jeder seine Brille putzen.
SH: Sie hatten gefragt, wie man den nötigen Informationsaustausch schaffen kann. Das ist ein Thema, über das wir wirklich viel nachdenken und wo wir noch lange nicht am Ende sind. Es gibt ja viele Plattformen, wo man informieren kann. Eine Informationssendung im Freien Radio Kassel ist geplant - der Name steht auch schon: BERLIN aktuell. Da hätte man in regelmäßigen Abständen eine Stunde Sendezeit zum Berichten und könnte dort ExpertInnen einladen oder zuschalten.
TT: Wenn Sie das so erklären, dass sie die Bürger wieder mehr in Diskussionen einbinden und dazu auch selbst die Informationen aus dem Bundestag mitbringen wollen, dann klingt das sehr optimistisch. Wenn ich mir die Parteienlandschaft so angucke, die über Jahrzehnte gewachsen ist, kann man sagen - ohne jemanden zu beleidigen - dass das ein Parteienfilz ist. Um sich dort durchzusetzen, braucht man einen ganz bestimmten Habitus: Machtkalkül und Bereitschaft zu Intrigen sind dort an der Tagesordnung. „Die Bürgerkandidaten gehen in den Bundestag" - das klingt so, als wurde man die politische Landschaft auch ein wenig reinigen und moralisch erheben wollen. Um es kurz zu sagen, es klingt für mich noch etwas naiv, wenn gesagt wird: „Wenn alle mitmachen, wird alles gut."
SH: Ich hatte früher schon die Idee und auch den Wunsch oder Drang gehabt, in die Politik zu gehen. Und wenn ich mich dann mit Leuten darüber unterhalten habe, kam immer dasselbe heraus: „Willst Du Dir das wirklich antun?“, „Du musst Dich verbiegen, um irgendwie nach oben zu kommen, dann könntest Du etwas ändern, aber dann bist Du ja schon verbogen.“ In einer Partei aktiv zu werden - dazu konnte ich mich bis jetzt nicht durchringen, weil ich nicht immer hinter allem stehen kann, wenn es um Zwang und nicht um Sachfragen geht. Darum war ich von der Idee der Bürgerkomitees begeistert. Dass ich jetzt die Bürgerkandidatin bin, ist eher Zufall. Wenn wir es schaffen, ist es eine großartige Chance und die müssen wir dann wahrnehmen.
AS: Das Wort naiv - ja, das könnte man dafür benutzen. Optimist sind wir sowieso, sonst hätten wir die ganze Arbeit nicht auf uns genommen. Ich beschäftige mich, seit ich 14 bin, mit Politik und merke immer wieder bei den Parteien, zum Beispiel bei den Grünen oder der SPD, dass sie über Gemeinwohl reden, aber nachher ganz andere Gesetze bestimmen. Und da schwillt mir ehrlich gesagt der Kamm. Ich finde, ich habe nur ein Anrecht zu meckern, wenn ich zumindest ein Stück weit versuche etwas zu tun.
"Es wäre eine Revolution, wenn wir mehr Parteilose in den Bundestag kriegen würden."
TT: Was wir jetzt in der Politik erleben, ist ja eine Übertünchung von bestimmten Tatsachen. Wenn wir uns bewusst machen, dass die Finanzkrise permanent über uns schwebt und eine Systemkrise der Wirtschaftsform erst recht. Längst haben wir es 5 nach 12 und nach meiner Einschätzung haben wir es mit einer Politik Machiavellischer Art zu tun. Die Bevölkerung wird in gewisser Weise hingehalten und es werden Entscheidungen getroffen, die mit deren Interessen nichts mehr zu tun haben. Das bedeutet eigentlich: Wir befinden uns wie in einem Vorfeld zur Revolution, weil es um ungeheure Sachen geht. Wenn sie als Bürgerkandidatinnen jetzt versuchen, Dinge klarer und transparenter zu artikulieren, haben sie sich einmal gefragt, ob sie das Fünkchen am Pulverfass sein wollen, das es jetzt braucht?
SH: Ich denke, wir brauchen mehrere Fünkchen, damit die Menschen das auch hören und damit die Politiker das auch wahrnehmen. Deshalb fände ich es auch wichtig, dass es nicht nur ein Kandidat oder eine Kandidatin schafft, in den Bundestag zu kommen, sondern es wäre eine Revolution, wenn wir mehr Parteilose in den Bundestag kriegen würden. Wenn wir das schaffen, glaube ich, dass es mehr Frieden geben wird und auch die Profiteure des jetzigen Systems würden in einem friedvolleren Land leben.
AS: Drei Aspekte die ich kurz dazu anfügen möchte. Zuerst: Was ein Parteiloser bewirken kann, haben wir in Frankreich gesehen. Das andere: Auch wenn wir nicht in den Bundestag kommen, hat sich schon etwas getan. In dem Moment, als wir mit den 85 Initiativen in die Öffentlichkeit gestartet sind, hat die CDU auf einmal im Internet eine Seite eröffnet, wo die Bürger ihre Meinung reinschreiben sollten, damit sie hören, was die Bürger gerne möchten. Also auch wenn wir „nur“ Tore aufmachen, ist das schon ganz viel.
"Anstoß für die Begründung einer neuen politischen Kultur"
TT: Wozu sie aufrufen, ist vergleichbar mit dem Modell der antiken Polis - die Bürger sollten durch ihren Bildungsstandard auch in der Lage sein, politisch mitzudiskutieren. An welche Teile der Bevölkerung richten Sie sich nun und reicht ihr Optimismus soweit, dass sie glauben, zeitklamme Bürgerinnen für politische Arbeit zu gewinnen?
SH: Arbeiten würde ich gern mit den BürgerInnen, die daran Interesse haben und auch mit Gruppen, die es schon gibt und die sich mit speziellen Themen auseinandersetzen. Wir haben in Kassel eine große Gruppe, die sich um Frauenarbeit kümmert, dann gibt es Transition Town, die wieder ganz andere Ideen haben. Im sozialen Bereich wäre der paritätische Wohlfahrtsverband für mich ein ganz wichtiger Ansprechpartner, weil der ganz viel Wissen hat zu den ganzen Gesetzen und Verknüpfungen. Was aber für viele Menschen erst mal ganz wichtig ist: dass sie wieder einen Zugang zu Politik bekommen in Form von Informationen, die sie verstehen. Ich denke, es müssen gar nicht so viele mitmachen, sondern überhaupt erst mal mit ins Boot genommen werden.
TT: Ich versuche noch einmal zusammenzufassen: Die Idee, Bürgerkandidaten aus den Komitees heraus aufzustellen, ist ein Anstoß, eine neue politische Kultur zu begründen. Das heißt, eine öffentliche Kultur zu stiften, wieder Räume zu eröffnen, um über die Fragen, die die Menschen wirklich angehen, über die politisch entschieden werden soll, miteinander ins Gespräch zu kommen und sich da auch wieder der bürgerlichen Verantwortung zu stellen. Wo sehen Sie diese Räaume bzw. wie wollen Sie solche Räume mit kultivieren?
SH: Das ist die Aufgabe, die jetzt vor uns steht. Bisher haben wir viel in der kleinen Gruppe darüber diskutiert, was unsere Ideen sind, wie wir vorgehen wollen und ab jetzt wird es konkreter. Zwei Infoveranstaltungen gab es bereits, nun auch Sendungen im Freien Radio Kassel, wo wir versuchen, die Menschen zu erreichen, die dazugehören und das soziale Leben prägen. Da müssen wir unsere Gruppe öffnen und hoffen, dass unterschiedliche Menschen zu uns kommen.
"Wir haben ganz bewusst keine Partei gegründet."
AS: Wir müssen versuchen, sehr offen zu sein, aber auch Stop sagen zu können. Die ganze Bewegung, die rechts in Europa sich immer mehr aufbläht - da ist für uns eine deutliche Grenze. Wir stehen wirklich für Gemeinwohl und Volksentscheid - Volksentscheid auf eine bestimmte Art - aber nicht alle Meinungen werden wir vertreten können.
SH: Wir haben ganz bewusst keine Partei gegründet, weil wir uns keine Farben oder ein Programm geben wollen, sondern wir wollen schauen, was für Themen anstehen. Ich habe von vielen die Angst und Befürchtung gehört: „Dann können ja bei euch lauter Rechte mitmachen“. Ich denke, die wirklich Rechten sind ja mit der AfD erfolgreich, warum also sollten die dort weg gehen? Und dann denke ich, diejenigen, die zur AfD gehen und dort gar nicht so gut aufgehoben sind, also eher Protestwähler, die nicht rassistisch drauf sind und Veränderungen wollen, die können ja auch gerne zu uns kommen und über die Sachfragen mitdiskutieren und entscheiden. Ich glaube in den Grundthemen sind wir uns alle sehr ähnlich: wir wollen eine gerechte Steuerpolitik, Bildung für alle, Bewusstsein für die Ökologie. Diese Ausländerfeindlichkeit werde ich nicht vertreten.
AS: Es gibt Wissenschaftsreporte, die aufzeigen, dass Empathie, Mitgefühl und das gegenseitige Helfen zugenommen haben in den letzten Jahrzehnten, obwohl uns die Medien etwas anderes verkaufen. Die Medien haben eine massive Macht des Negativen. Ich würde mir wünschen, dass sich das verändert, dass positive Nachrichten gesendet werden und dass wir Mut kriegen die Welt zu verändern, denn wir müssen sie verändern.
redaktionelle Bearbeitung: Jörg Wunderlich