Im September war ich (D. S.) mit einer Gruppenreise zweier Freundschaftsgesellschaften 14 Tage auf der Krim. "Und was haben wir gelernt?" hätte da meine leider viel zu früh verstorbene Russischlehrerin Frau O. gefragt.
Wir haben eine Menge über die Schönheiten der Landschaft erfahren, über die Wohnkultur der Skythen, die Theaterkultur der griechischen Kolonisten, die praktische Religiosität der Iphigenien und das Liebesleben der Tatarenkhane. Und wir haben eine Menge verlernt, Propaganda beider Seiten falsifiziert, uns mit neuen Fragen infiziert wie mit ansteckendem Durchfall. Etwa die Frage der Sanktionen, müsste man sie nicht eigentlich begrüßen? Zwingen sie doch Russland, nicht mehr auf den Rohstoffexport als zentrale Devisenquelle zu setzen und sich der Höherveredlung zuzuwenden? Der Preis ist freilich eine brutale Inflation des Rubels auf Kosten der Schwachen, gerade wurde der Inflationsausgleich für Rentner halbiert ...
Gute Frage, nächste Frage: "What Went Wrong with Perestroika" fragte Marshall I. Goldman 1993 in seinem lesenswerten Buch. War Gorbatschow ein historischer Unglücksrabe oder ein Erzverräter? Die Sowjetunion hatte neben bornierten Ideologen auch viele fähige Gesellschaftswissenschaftler, an kritischen internen Analysen der jeweiligen politischen und ökonomischen Situation mangelte es nie. Weshalb ließ Michail Gorbatschow die sich zuspitzende Krise über mehrere Jahre laufen, bis nichts mehr zu reparieren war? War es Eitelkeit, Beratungsresistenz, Naivität, Passivität, Vorsatz, gar bewusster Verrat?
Reinhard Lauterbach beantwortet die Frage in seinem Buch "Das lange Sterben der Sowjetunion" mit einem Rückgriff auf Naomi Kleins Theorie der "Schockstrategie". Kleins Modell beschreibt, wie entschlossene Minderheiten soziale Katastrophen organisieren und nutzen, um das, was sie ohnehin vorhaben, ohne größeren Widerspruch durchzusetzen. Gorbatschow und seine Spießgesellen wollten eine Sozialdemokratisierung der KPdSU und eine Umformung der UdSSR nach dem Muster der bundesdeutschen "Sozialen Marktwirtschaft".
Sieht man Gorbatschows Nicht-Handeln vor dem Hintergrund des Kleinschen Modells, wird ein Muster erkennbar: anfangs beherrschbare Schwierigkeiten werden so lange ignoriert, bis sie wirklich krisenhafte Ausmaße angenommen haben. Das Handeln der herrschenden "Strategen" wird in der selbst verschuldeten höchsten Not als "alternativlos" dargestellt. Einsprüche dagegen werden mit dem Verweis auf "das Leben" abgebügelt, das nun einmal dieses oder jenes verlange. Diese gewollte Begriffslosigkeit vollendet die "Schockstrategie". Darauf muss man erst einmal kommen.
Literatur:
Goldman, Marshall I.; What Went Wrong with Perestroika; Northon & Co.; New York 1993.
Lauterbach, Reinhard; Das lange Sterben der Sowjetunion; Edition Berolina; Berlin 2016.
Klein, Naomi; Die Schock-Strategie; Fischer-Taschenbuch; Frankfurt/M. 2009
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