Die Stadt weiß es seit dem Tag der Freien Theater in Halle am 27. Mai: Die Szene ist lebendig und kurzweilig. Etliche der Produktionen sind leider flüchtig: Weil der Sommertheatersommer zu Ende geht, weil die Förderung für die Produktion nur für wenige Aufführungen gereicht hat oder weil es eben keine festen Bretter gibt oder …
Zwei sehenswerte Produktionen dieses Theatersommers, die aber leider erst einmal nicht mehr zu sehen sein werden, waren: „Wunschmaschinen. Performer der Krise“ des Theaters Aggregate und „Die Mittellosen“ des Studierendentheaters der MLU.
Das Thema: Kapitalismus. Nicht nur die Revolution frisst ihre Kinder, auch der Kapitalismus tut es. Mit Haut und Haaren (und die Welt gleich mit. Das wissen wir spätestens seit Marx). Was macht das mit uns?
„Wunschmaschinen. Performer der Krise“
Das Stück (Text und Regie: Silvio Beck) stellt die beunruhigende Frage, ob der Kapitalismus wirklich ein Gegenüber ist, eins, das wir von uns abtrennen können. Oder ob er seine Wurzeln nicht so tief in unserem Menschsein hat, dass er ein Ausdruck, eine Äußerung unseres Begehrens ist, unserer Wünsche, die in materialisierter Form Bedürfnisse sind und damit marktrelevant. Das ist die philosophische Ebene, auf der sich Silvio Becks Produktion bewegt.
Drei Spieler – eine Frau und zwei Männer – zerlegen ihre Künstler-Existenzen in Anteile wie Biographie, Theater unter Marktbedingungen oder die Suche nach dem unverwechselbaren Ich. Die Dringlichkeit, mit der die Spieler alle Seiten ihrer Existenz durchsuchen – die Brüche und Teilungen, die Versuche, sich selbst zu fassen – erinnert an die Verzweiflung von Ertrinkenden: Wo ist Halt in einer Gesellschaftsform, die unsere Wünsche gegen uns ausbeutet? Wie alle archaischen Kräfte aber ist auch das Wünschen anarchisch, am Ende nicht zu zähmen (auch wenn der Markt gerne daraus Kaufbedürfnisse machen würde). Und damit, vielleicht, rettende Kraft.
Wichtiger Impulsgeber für „Wunschmaschinen“ sind Arbeiten des französischen Philosophen Gilles Deleuze (1925−1995), aus denen auch der Begriff „Wunschmaschinen“ stammt. Wunderbare Schauspieler, große Spielfreude, auf- und anregender Text ….Wohl einer Stadt, in der es solches Theater zu sehen gibt. Leider nur in wenigen Aufführungen – die Förderbedingungen …
Was macht die Kunst? Sie geht nach Brot.
"Die Mittellosen"
Im WuK-Theaterquartier (am Holzplatz) war #3 KAPITALISMUS das “Thema“ seit Mai. „Die Mittellosen“ (Studierendentheater der MLU, Inszenierung Tom Wolter) war eine der Produktionen zum Thema. „Wir stürzen uns in das Thema ARMUT. Haben wir Angst zu ertrinken? Was können wir verlieren? Wer oder was ist heute arm? Wer ist arm geworden oder an was ist er arm? Fühlt er oder sie sich arm und wie dagegen vorgehen?“ Natürlich wurden all diese Fragen nicht beantwortet. Vielmehr schienen sie Kristallisationspunkte für das Spielen, mithin Spielanlässe zu sein. Vier Teile wurden dargeboten. Der erste draußen neben der Theater“baracke“ (sorry, Herr Wolter) auf Liegestühlen im Beachballsandstrand – eine echte „location“: Anjas Geburtstagsfeier, in die plötzlich eine Katastrophe (Finanzkrise?) via Smartphone einbricht. Die Gäste in antiken Gewändern! (Doch bleiben sie leider ohne Funktion, wie manch weiteres Detail der Produktion auch.)

"Die Mittellosen" Studierendentheater der MLU im WuK
Für Teil zwei und drei wurden die Zuschauer ins Haus verfrachtet. Hausherr Wolter selbst dirigierte sie hierhin und dorthin, Szenen waren zu sehen, deren Zusammenhang wohl das Thema ARMUT hätte sein sollen (und können). War es aber nicht oder ging unter in der überwältigenden Spiellust der Darsteller. Viel Pantomime und Spiel, wunderbar einfallsreich und lebendig. Im Vorraum Musikperformance mit Plastikflascheninstrumenten, auch Tanz (zum Teil Zuschauer einbeziehend, was immer etwas peinlich ist). Der vierte Teil wieder draußen. (Das erwartete Gewitter war nicht erschienen und der Regen auch nicht, aber kalt wehte es nun von Westen die müden Zuschauer an.) Hinter den erleuchteten Fenstern des Hauses wieder Pantomime. Dann folgte noch eine Menschenversteigerung (moderner Sklavenmarkt), bei der man die angepriesenen Qualitäten der menschlichen Sub-/Objekte für echte Euro kaufen konnte. Und, es war schon nach elf, auch noch ein Interview (fiktiv? real?) mit zwei der Schauspieler: Wie (ob) sie die Welt gerne anders hätten …
ZU VIEL und ZU LANG! Der Inszenierung hätte eine Straffung sehr wohlgetan und wahrscheinlich auch das Thema deutlicher hervortreten lassen. Dabei: Wunderbares Spiel und wunderbare Spieler! Schade auch hier, dass die Produktion nicht mehr zu sehen ist.
Wohl einer Universität, die ein solches Theater hat!