Unter den Stei­nen Mitteldeutschlands

Der Spät­auf­klä­rer Johann Gott­fried Seu­me hat über 200 Jah­re unter einem Stein in Ita­li­en geschlum­mert. Jetzt ist er dar­un­ter her­vor gekro­chen und hat sich auf die Wan­der­schaft zu sei­nem Sehn­suchts­ort Grim­ma an der Mul­de gemacht. So ist wenigs­tens die Aus­gangs­la­ge des Romans "Der lan­ge Schlum­mer" von Jan Decker, der vor eini­gen Wochen in dem Schwei­zer Klein­ver­lag Edi­ti­on 21 erschie­nen ist. Der Schlaf der Ver­nunft also, noch dazu unter einem Stein - im Eng­li­schen eine gän­gi­ge Wen­dung, um kras­se Unin­for­miert­heit zu bezeich­nen. "You need to get out from under that rock you've been living under!" (Urban Dictionary)

So rich­tig zu Bewusst­sein kommt der bemoos­te Rei­se­schrift­stel­ler erst an der Auto­bahn­rast­stät­te Grä­fen­ro­da, wo er gleich jede Men­ge Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik übt, in Form ver­trau­li­cher Brie­fe an einen ima­gi­nä­ren Adres­sa­ten. Son­der­ba­re Vehi­kel ganz ohne Pfer­de erschre­cken den Wan­de­rer, er schlägt sich seit­wärts in die Büsche (!) durch den früh­lings­grü­nen Thü­rin­ger Wald nach Gotha. Dort über­nach­te­tet er bei einem Klein­gärt­ner, der ihm aus der DDR-Zeit berichtet.

Wei­ter geht die Wan­der­schaft über Bad Lan­gen­sal­za, Sang­er­hau­sen, Mans­feld, Hett­s­tedt wei­ter nach Wet­tin, wo die bei­den Welt­krie­ge the­ma­ti­siert wer­den. In Hal­le wird Seu­me bestoh­len und die Poli­zei sperrt ihn wegen feh­len­der Papie­re ein. Das erscheint eini­ger­ma­ßen unrea­lis­tisch, denn in der Saa­le­stadt müs­sen selbst die Akteu­re blu­ti­ger Schlä­ge­rei­en aus­gie­big "mes­sern", um die Auf­merk­sam­keit der Poli­zei auf sich zu zie­hen. Ein­ge­sperrt wer­den eh nur Schwarz­fah­rer und Fern­seh­ge­büh­ren-Schuld­ner. Am nächs­ten Mor­gen dik­tiert Deckers auf­er­stan­de­ner Spät­auf­klä­rer zwei nuscheln­den Fern­seh-Kom­mis­sa­ren dann vier Sei­ten Lebens­lauf in die Nach­wen­de-Schreib­ma­schi­ne, bevor er doch noch hin­aus gewor­fen wird.

Schlim­mer als Hal­le kommt nur noch Bad Ber­ka weg, wo Seu­me den Glat­zen vom Thü­rin­ger Hei­mat­schutz eine gehö­ri­ge Stand­pau­ke hält. Wei­ter geht es über Mer­se­burg, Quer­furt nach Schaf­städt, wo der Spät­auf­klä­rer zu einem Fami­li­en­tref­fen der Trä­ger des Namens Seu­me ein­ge­la­den wird. Com­pu­ter und Auto­mo­bil wer­den auf­klä­re­risch verfremdet.

In Wei­mar bekommt der Klas­si­ker­kult sein Fett weg, mit der Harz­quer­bahn geht es auf den Bro­cken und wei­ter nach Wer­ni­ge­ro­de, wo sich Seu­me als Wit­wen­trös­ter betä­tigt. Im hoch­auf­lö­sen­den Fern­se­hen sieht er die Krie­ge im Nahen Osten und Arzt­se­ri­en, bei­des wird fach­kun­dig kom­men­tiert. Über Stol­berg, Bad Fran­ken­hau­sen und Erfurt geht es end­lich nach Leip­zig, den eigent­li­chen Lebens­mit­tel­punkt des his­to­ri­schen Seu­me.  Der Auf­er­stan­de­ne betä­tigt sich hier frei­lich wie­der nur als Wit­wen­trös­ter und schreibt andau­ernd von der "Hel­den­stadt", wobei Decker das Iro­ni­sche die­ser Bezeich­nung ent­gan­gen sein muss.

Mitt­ler­wei­le ist es Herbst gewor­den, der Auf­er­stan­de­ne nimmt an einer Nach­stel­lung der Völ­ker­schlacht teil. Tage­lang geht es um Cas­ting, Ein­klei­dung und Her­um­ste­hen auf dem his­to­ri­schen Schlacht­feld. Hier zeigt der Text zum ers­ten Mal Län­gen und Platt­hei­ten. Der glü­hen­de Napo­le­on-Has­ser und (spä­te­re) Pazi­fist Seu­me wird hier als Gaf­fer und Mili­ta­ria-Ver­eh­rer dar­ge­stellt - typi­sche Schreib­schul-Lite­ra­tur! Doch Grim­ma ist nicht weit und dort endet der Text so, wie er begon­nen hat, unter einem Stein. Das wirkt wie die Auf­for­de­rung: "Leg dich wie­der hin, Ange­la Mer­kel und Anja Reschke wer­den es schon richten!"

Viel­leicht ist das Affir­ma­ti­ve und Läng­li­che des Schlus­ses aber auch Absicht und Selbst­iro­ni­sie­rung des Autors. Es muss ja nie­mand mei­ner Mei­nung sein. Ins­ge­samt ein ori­gi­nel­ler, ver­gnüg­lich zu lesen­der und zum Nach­den­ken anre­gen­der Text. Schon Goya mein­te: "der Schlaf der Ver­nunft gebiert Unge­heu­er". Gefahr erkannt - Gefahr gebannt.

Gera­de haben Autor und Buch den Seu­me-Lite­ra­tur­preis der Stadt Grim­ma gewon­nen. Gemes­sen dar­an ist der Ver­trieb des o. g. Buches in Deutsch­land ein Trau­er­spiel. Die Hard­co­ver-Ver­si­on kann man sich nur gegen Auf­preis aus der Schweiz schi­cken las­sen, das eBook gibt es bei gro­ßen Ket­ten wie Tha­lia und bei Ama­zon. Bei klei­nen Buch­händ­lern ist weder das Eine, noch das Ande­re bestell­bar. Nach dem Mot­to: Kau­fen Sie erst ein­mal das, was wir gut finden!

Jan Decker
Der lan­ge Schlummer
Edi­ti­on 21, Thun 2017

http://edition21.ch/schlummer.html

Kommentar verfassen