Die Welt in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ist grausam und gewalttätig, aber Grausamkeit und Gewalt werden durch den heimeligen Ton der Erzählung entschärft zum Zwecke der Erziehung und moralischen Bildung. Oft genug gehen die Geschichten ja auch heil aus. Das Gute siegt und Gewalt und Grausamkeit werden gerächt (Wilhelm Grimm hat da auch mal nachgeholfen).
In den Grimmschen Märchen kommt auch ein Thema vor, über das wir heute lieber nicht reden: Grausamkeit und Gewalt gegenüber Kindern. Sie waren im Übrigen als „Erziehungsmittel“ zu Zeiten der Grimms noch lange nicht geächtet, wenngleich die bürgerliche Pädagogik zumindest an der Abschaffung der körperlichen Züchtigung arbeitete.
Für die Malerin Julia Wegat sind die Grimmschen Märchenfiguren und -motive Kristallisationskerne für die Darstellung von Verletzlichkeit und Verletztheit, für den Schock und das Trauma, die dem Übergriff folgen, für das Zeigen des Unaushaltbaren, das verdrängt werden muss, damit das Leben irgendwie weitergehen kann. Hier wird nichts entschärft und es gibt auch kein heimliches Einverständnis, dass Gewalt und Grausamkeit gerächt werden.
Die Wirkung der Bilder hebt ab auf die Reibung zwischen einer Rezeptionserwartung, die durch Walt Disneys Märchenfilme und unsere Bereitschaft, Märchen als „Kindereien“ abzutun, geprägt ist und dem ohnmächtigen Entsetzen, wenn wir die am kindlichen Leibe erfahrene unheilbare Verletzung ansehen müssen. Wie und warum in unserer Gesellschaft Kindern Gewalt angetan wird, bleibt dem Betrachter zu bedenken. Im Spiegel der kindlichen Seele spielen die Gründe keine Rolle, denn es bleibt, groß im Bilde und ein nie zu tilgender Schatten am Ausgang ins eigene Leben, die Erfahrung des Übergriffs, des Erleidens, es bleibt die Passion.
Die Ausstellung „Märchenbilder“ war vom 20. März bis zum 30. April in der Villa Rabe der Christlichen Akademie für Gesundheits- und Pflegeberufe in Halle zu sehen. Zum ersten Male wurden alle sechzehn Bilder des Zyklus zusammen gezeigt.
Informationen zu Julia Wegat sowie ihren Projekten und Bildern: www.julia-wegat.de
Marianne Heukenkamp