Im Jahr 2017 zog eine Gruppe konsumkritischer Aktivisten aus der Foodsharing-Bewegung nach Wurzen. Mitten in der sächsischen Kleinstadt gründeten sie ein Hausprojekt, um ihre Ideen von Wandel und Nachhaltigkeit in die Tat umzusetzen: Retten statt Verschwenden, Teilen statt Haben, Gemeinschaft statt Privatleben. Jörg Wunderlich porträtierte die Gruppe 2018 in einem Radiofeature für MDR KULTUR. Jetzt, zwei Jahre später lauschte er noch einmal in Wurzen. Wie reagiert die Stadtgesellschaft auf die Impulse der jungen Idealisten aus der Generation Klimawandel? Und wie hat sich deren Leben in einem sozialen Experiment seitdem entwickelt?
Die Foodsharing-Initiative entstand um 2012 in Berlin und wuchs seitdem beständig zu einer breiten Graswurzelbewegung an. „Containern“ und Lebensmittelretten gehören heute praktisch zum urbanen Lebensstil, und politische Forderungen nach einem Wegwerfverbot im Handel werden laut. Sogar kommerzielle StartUps und Supermärkte gibt es mittlerweile, die ausschließlich mit geretteten Esswaren handeln.
Wie alles begann
Janina, Matthias und die anderen „Kanthausianer“ gehören zu denjenigen, die der ursprünglichen Idee von Foodsharing treu bleiben wollten. Überflüssige und vom Handel aussortierte Lebensmittel sollen in gemeinschaftlicher Verantwortung gerettet und bedingungslos verteilt werden, so wie es mit der gleichnamigen Website organisiert wird. Vom Erfolg ihrer Bewegung beflügelt, entwickelten sie vor Jahren mit anderen Kernaktivistendie Idee für ein Hausprojekt: Ein Ort zum gemeinsamen Leben und Arbeiten sollte entstehen,ein Ort für die Idee des Teilens. 2017 erwarb die Gruppe zwei unsanierte Gründerzeithäuser in Wurzen und gab sich eine eigene Verfassung, nach der sie leben und arbeiten wollte.
Es geht voran
Mittlerweile hat sich einiges getan in der Wurzener Kantstraße. Das „Kanthaus“ ist „Foodsharing-Zentrale“ und beherbergt weitere nachhaltige Projekte. Die Gemeinschaft ist gewachsen und hat die Häuser aus eigener Kraft zu großen Teilen wieder instand gesetzt. Die technikaffinen Bewohner tüfteln an Websites wie foodsharing.de, wo mittlerweile 300.000 Nutzer aktiv sind, aber auch an Lichtsteuerungen, Lastenfahrrädern, Komposttoiletten und einer Solaranlage.
Einmal pro Woche öffnet das Kanthaus zum „Offenen Dienstag“ seine Türen für alle. Wer kommt, kann Lebensmittel aus dem „Fair-Teiler“ oder Kleidung aus dem „Verschenkeladen“ mitnehmen. Für das „Repair-Café“ stehen Menschen mit Rat und Tat, aber auch Maschinen und Werkzeuge zur kostenfreien Nutzung bereit – vom Akku-Schrauber bis zur CNC-Fräse.„Es bewegt sich viel“, sagt Nachbar Sven, der dem Projekt von Anfang an wohlwollend verbunden ist und auch zwei Kühlschränke für die Lebensmittellager im Haus spendete. Was die Ausweitung der Ideen auf die Stadtgesellschaft angeht, bleibt er aber skeptisch. Das Projekt werde auch nach zwei Jahren von der Bevölkerung nicht so angenommen, und auch örtliche Händler und Lebensmittelbetriebe wären kaum bereit etwas abzugeben. Die Gruppe im Kanthaus erhofft sich mehr Außenwirkung, wenn es gelingt, mitten in der Fußgängerzone einen öffentlichen „Fair-Teiler“ für Lebensmittel zu installieren.
Teilen und Nachhaltigkeit im ganzen Haus
Zwischen zehn und fünfzehn Menschen aus Deutschland und dem europäischen Ausland leben meist im Kanthaus. Die Ideen des Teilens und der Nachhaltigkeit durchziehen alle Lebensbereiche. Niemand hat einen privaten Kleiderschrank, die klassische Wohnstruktur istaufgelöst, doch wer Ruhe braucht, kann sich auch in ein dafür vorgesehenes Zimmer zurückziehen. Laufende Kosten und der Verbrauch an Ressourcen werden auf der Website dokumentiert und gemeinsam getragen.
Zu den Gemeinschaftsregeln gehört ein Wochenplan, auf den sich die Bewohner einigen. Projektarbeit, Meetings und „Pick Ups“, also das Abholen von Lebensmitteln, stehen darauf, aber auch Yoga und Sport, WLAN-Parties oder Filmabende. Auf regelmäßig stattfindenden „Sharing Events“ teilen die Bewohner miteinander ihr Wissen: Programmieren, Elektronik, Handwerks- oder Kommunikationstechniken.
Vom Leben als Vollzeitaktivist*innen
Neben den Arbeiten für die Gemeinschaft gehen die Aktivisten unterschiedlichen Tätigkeiten nach. Nathalie, studierte Ingenieurin, ist im Vorstand des bundesweiten Foodsharing e.V. aktiv und organisiert Festivals und Kampagnen. Matthias, IT-Ingenieur und Robotikspezialist, arbeitet als Administrator für die Plattform foodsharing.de. Unentgeltlich, wie alle Aktivisten. Tilmann, der Elektrotechnik studiert hat, entwickelt seit Jahren gemeinsam mit Janina die Software für Karrot, einer internationalen Variante von foodsharing.de. Im Dezember 2018 hat Janina die App auf dem Kongress des Chaos Computer Club in Leipzig vorgestellt.
Bei ihrem Auftritt richtete sie auch eine persönliche Botschaft an die Computerszene: Software sei ein Werkzeug, aber um ein wirksames Netzwerk von Menschen aufzubauen, müsse man hinter seinem Computer hervorkommen und hineingehen in die richtige Welt. Diesen Gedanken setzen die Wurzener Aktivisten in die Tat um. Immer wieder suchen sie den Kontakt zu den Bewohnern der Stadt, sei es beim monatlichen Foodsharing-Brunch, beim „Offenen Dienstag“, bei öffentlichen Hausfesten oder bei gemeinsamen Aktionen mit der örtlichen „Fridays for Future“-Gruppe.
Über die mögliche Wirkung ihrer Arbeit und ihrer Aktivitäten sagt Matthias: Uns ist klar, dass wir nicht Menschen dazu bringen wollen genau so zu leben wie wir. In den nächsten fünf Jahren ist es, glaube ich, auch erstmal dieses Aufmerksam-Machen, eine gewisse Bereitschaft auslösen in Menschen, anzuerkennen, in was für Problemen wir eigentlich gerade stecken. ... Mir fällt es wirklich schwer zu erkennen, was wir jetzt eigentlich beitragen und was wir nicht beitragen. Ich bin halt mittendrin
Quelle: MDR
Sendetermin: Samstag, 23. 5. 2020 auf MDR Kultur und RBB Kultur - 9:05 Uhr
Die Sendung ist Online abrufbar unter: https://www.ardaudiothek.de/feature/die-graswurzener-zwei-jahre-spaeter/75882840
Teil 1 der DOKU von 2018 online hören hier: https://www.ardaudiothek.de/mdr-dok/die-graswurzener-aussteigen-4-0/75873378