Zum Ausklang des Sommers finden in Halle und im Saalekreis wieder die 'Langen Wochen der Nachhaltigkeit' statt. Ein vierköpfiges Orga-Team hat erneut für ein vielfältiges Programm gesorgt und gibt einen ausführlichen Einblick.
Was sind die Ziele der „Langen Wochen der Nachhaltigkeit“ , wer veranstaltet sie, wie werden sie finanziert und warum gibt es sie überhaupt?
Diana Neumerkel: Die Langen Wochen finden in diesem Jahr zum sechsten Mal in Halle statt. Sie sind Teil der bundesweiten und europäischen Aktionstage Nachhaltigkeit. Diese wurden vom Rat für Nachhaltige Entwicklung ins Leben gerufen, um das vielfältige Engagement rund um die 17 Nachhaltigkeitsziele sichtbar zu machen. In Sachsen-Anhalt finanziert das Ministerium für Wissenschaft, Energie, Klimaschutz und Umwelt die Koordination. Projektträger ist der mohio e.V. und organisiert werden sie von Menschen aus unterschiedlichen Vereinen und Initiativen – dieses Jahr vor allem vom WohnUnion e.V. Einerseits zeigen wir, was alles in und um Halle zu dem Thema bereits passiert und andererseits ist uns wichtig, Räume und Gelegenheiten für Austausch und Vernetzung zu schaffen.
Grit Herzog: Genau darum soll es in diesem Jahr in unserer Hauptveranstaltung am 27. September auf dem Stiftsgut in Stichelsdorf gehen. Unser Ziel ist es, eine Plattform zu bieten, wo Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Vereine ungewöhnliche Allianzen für Nachhaltigkeit und Biodiversität eingehen können. Das meint, wir bringen zum Beispiel den Kinderbauernhof vom Stiftsgut Stichelsdorf - mit seinem vielfältigen naturpädagogischen Angeboten auf dem Land – zum Beispiel mit dem Netzwerk Nachhaltigkeit in der Wirtschaft oder dem Projekt Klima-Engagiert in Halle zusammen. So gelingt der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus. Und wir sind super gespannt, welche Mehrwerte sich daraus ergeben für alle Beteiligten.
Anna von Gruenewaldt: Als ich 2019 anfingen die Langen Wochen zu organisieren, war es beispielsweise noch sehr besonders, Menschen aus der Stadtverwaltung mit Klimaaktivist:innen und Unternehmen zusammen zu bringen. Wir haben damals Formate wie die "Klima Kreise" entwickelt, in denen sich Menschen mit Begeisterung für das Thema begegnen konnten – außerhalb ihrer offiziellen Funktionen. Dabei sind wichtige Kontakte entstanden. Mittlerweile gibt es da viel mehr Wissen umeinander. Wir versuchen, dieses Wissen zu erweitern, weil wir glauben, dass wir die Klimakrise und all die anderen Herausforderungen nur gemeinsam angehen können. Es braucht vielfältige Perspektiven und alle Fähigkeiten und Ressourcen, die wir haben. In diesem Jahr sind die Fokusthemen Biodiversität und für Sachsen-Anhalt zudem noch Strukturwandel. Wir wollen beides zusammen denken und schauen, wo sich dabei neue Möglichkeiten für Kooperationen ergeben. Passend dazu heißt unser Motto in diesem Jahr "Zusammenspiel", angelehnt auch an das kulturelle Themenjahr in Halle.
Getreu dem Motto, dass es keine dummen Fragen gibt: Was ist Biodiversität?
Anna v.G.: Gute Frage! Ist eigentlich ziemlich einfach erklärt und doch komplex: Biodiversität umfasst die Vielfalt aller lebenden Organismen und ihrer Lebensräume weltweit. Besonders bekannt ist wahrscheinlich der Begriff Artenvielfalt. Viele Arten sind aktuell stark bedroht. Die Vielfalt ist jedoch entscheidend für das Funktionieren unserer Umwelt, da viele Organismen, wie z.Bsp. Regenwürmer und Bienen, wichtige Aufgaben erfüllen. Dazu gehört zum Beispiel, dass Bienen und andere Insekten, die Blüten von essbaren Pflanzen und Bäumen bestäuben. Wenn man rein ökonomisch denken will, sind diese Tiere und Insekten für uns kostenlose Dienstleister. Ohne sie müssten wir das alles selbst machen – was ja völlig undenkbar ist. In der Konsequenz hätten wir keine ausreichende Nahrung mehr! Ein artenreiches Ökosystem ist zudem stabiler und kann besser auf Klimaveränderungen reagieren. Was ja in der jetzigen Klimakrise total wichtig ist.
Anne Hafenstein: Da wir als Menschen so eng mit der Natur verknüpft sind, sprechen wir lieber von "Mitwelt" statt "Umwelt" – weil wir eben ein Teil davon sind und nicht einfach drüber stehen. Wir sind abhängig – anders lässt sich das nicht sagen. Das schafft natürlich auch Ängste und Sorgen. Manchmal kann das lähmen, weshalb es wichtig ist, da anzusetzen wo wir selbst einen Beitrag leisten können, um ins Tun zu kommen. Unser Handeln beeinflusst die Biodiversität und auch die Klimakrise, diese beeinflussen sich wiederum wechselseitig. Darum ist es dringend notwendig Biodiversität zu schützen und zu fördern. Je artenreicher ein Ökosystem ist, umso stabiler ist es und kann so Störungen, wie krasse Hitze, langanhaltende Trockenheit oder Starkregen und Überschwemmungen, besser ausgleichen.
Erleben Sie bei Ihren Veranstaltungen die vielzitierte „Spaltung der Gesellschaft“?
Grit H.: Wir nehmen bei vielen Menschen ein großes Interesse wahr. Manche beschäftigen sich schon mit Nachhaltigkeit, anderen sind offen und neugierig, und wiederum andere wollen davon gar nichts wissen. Es begegnet uns die gesamte Bandbreite von Meinungen und Haltungen der Gesellschaft, wie zu anderen polarisierenden Themen auch. Aber Spaltung als Begriff finde ich an dieser Stelle überbewertet. Unser Ziel bei Veranstaltungen ist Gemeinsamkeiten zu finden und Unterschiede sichtbar und aushaltbar zu machen.
Diana N.: Nachhaltigkeit geht uns alle an – denn es geht schlicht um unsere Lebensgrundlage. Unser gemeinsamer Ansatzpunkt sollte daher sein: wir wollen ALLE gut leben – jetzt und auch in Zukunft. Wie lässt sich das in Einklang bringen mit dem, was an Ressourcen zur Verfügung steht? Klimakrise, Biodiversitätskrise, Kriege und Massenkonsum machen unsere Lebensgrundlage kaputt. Das sind knallharte Themen an denen unglaublich viele Emotionen hängen. Wir brauchen auch ein offenes Ohr dafür.
Anne H.: Eine Frage ist auch: Wie viele Menschen haben eigentlich die Zeit, um sich aktiv zu engagieren oder damit zu beschäftigen? Neben Arbeit, Familie, Freizeit und sozialem Umfeld – der Tag hat ja nur 24 Stunden. Daher ist es wichtig, möglichst nah an die Lebensräume und an die Probleme der Menschen anzudocken, wenn man sie erreichen will. Z.Bsp. wenn Unternehmen eigene nachhaltige Praktiken einführen und erlebbar machen, wie ein bio-regional-fair Tag in der Cafeteria, Ökostrom beziehen, Müll vermeiden usw. Es sind viele kleine Schritte, die eine große Wirkung entfalten.
Anna v.G.: Klar ist dennoch, es kann kein pauschalisiertes "WIR machen das richtig", und "DIE machen es falsch" geben. Die einen essen kein Fleisch mehr, die anderen verzichten auf Obst und Gemüse aus wasserintensivem Anbau in Spanien und wiederum andere bestellen nicht mehr bei Amazon. Auch hier ist die Bandbreite an klimastärkenden Verhaltensweisen enorm groß.
Stichwort „Klimakrise“: Neigen Sie zu Optimismus oder Pessimismus? Und warum? Nehmen wir den ganzen blauen Planeten in den Blick.
Diana N.: Also was das 1,5 Grad-Ziel betrifft auf jeden Fall pessimistisch – das werden wir locker reißen. Global gesehen schaffen wir es momentan nicht die Treibhausgas-Emissionen zu senken – im Gegenteil, sie werden jedes Jahr mehr. Auch der „Earth Overshoot Day“ – der Erdüberlastungstag, an dem die Menschheit alle Ressourcen verbraucht hat, die ihr eigentlich für das gesamte Jahr zur Verfügung stehen müssten – rückt immer weiter nach vorne. Dabei ist Deutschland beim Treibhausgas unter den ersten 10 Staaten weltweit, die am meisten ausstoßen und beim Überlastungstag unter den ersten 20 Staaten, die am meisten verbrauchen. Das bedeutet: würden alle Menschen so leben wie in Deutschland, bräuchten wir 1,7 Erden! Das ist extrem ungerecht gegenüber anderen Staaten, die viel weniger Ressourcen verbrauchen oder Treibhausgas ausstoßen. Die meisten Menschen in Deutschland leben auf Pump und auf Kosten anderer.
Anne H.: Aber auch in Deutschland gibt es eine krasse soziale Ungleichheit. Während die einen mit Privatjets rumfliegen und mehrere Häuser besitzen, ist es für andere schon allein schwierig sich Bio-Lebensmittel oder eine Solaranlage auf dem Dach zu leisten. So lange dem Großteil der Bevölkerung – mit ihren Sorgen, Problemen und Unzufriedenheiten – keine guten und für sie leistbaren Lösungsansätzen bezüglich Klimakrise und globale Gerechtigkeit angeboten werden, wird sich wenig ändern.
Grit H.: Wir dürfen etwas ganz entscheidendes aber auch nicht vergessen: In jeder Krise liegt das Potenzial zur Veränderung. Es kann so Vieles auch so viel besser werden! Und was mich da besonders freut ist zu sehen, wie hier in Halle und Umgebung und überall auf der Welt so viele Menschen dabei sind neue Ideen und Vorstellungen eines „guten Lebens für alle“ zu entwickeln. Nicht nur technisch, denn Technik allein wird uns nicht retten – sondern vor allem gesellschaftlich, ökonomisch, politisch, ethisch, philosophisch... wie wir miteinander und dem Planeten umgehen.
Ganz konkret zu Halle: Was lässt Sie hoffen, wo ist Steigerungspotenzial?
Anna v.G.: Das, was wir mitbekommen ist ganz viel ehrenamtliches und zivilgesellschaftliches Engagement. Zum Beispiel über die Plattform "Klima engagiert in Halle" der Freiwilligenagentur. Es gibt viele Bildungsangebote von Vereinen und Initiativen rund um nachhaltige Entwicklung. Auch viel Aktivismus: Ende Juli fand der Sommerkongress von Fridays For Future Deutschland auf der Ziegelwiese statt, die Letzte Generation ist in Halle sehr aktiv, das erste Solarcamp for Future fand dieses Jahr auf der Alaune statt. Da passiert schon viel.
Diana N.: Auch renommierte Forschungseinrichtungen, die sich z.Bsp. mit Biodiversität beschäftigen sitzen in Halle: die Leopoldina oder das Umweltforschungszentrum. Angebote für die ganze Familie gibt es am Peißnitzhaus, dem Umweltbildungszentrum in der Franzigmark oder dem Kinderbauernhof in Stichelsdorf. Halle Zero hat bereits 2021 einen Klimastadtplan für ein klimaneutrales Halle 2030 entwickelt. Es gibt eine Ernährungsrat-Initiative und Solawis bzw. Biohöfe in der Region, die die Menschen in Halle versorgen. Auch Nahrungsmittelverschwendung wird als Thema von Initiativen wie dem Crummen Eck, Foodsharing oder Vitaminretter angegangen. Es gibt vegane Gruppen und Veranstaltungen rund um klimagerechte Ernährung. Oder auch die Fashion Revolution Week, die sich für öko-faire Mode, bewussten Konsum und Verbesserung der gesetzlichen Rahmenbedingungen der Textilproduktion einsetzt. Sowie Fahrradreparaturwerkstätten und Repair-Cafés. Alles richtig großartig!
Grit H.: Was noch ausbaufähig wäre, ist das Thema Nachhaltigkeit bei Unternehmen, öffentlichen Institutionen oder auch in der Kommunalpolitik umzusetzen. Alle reden zwar davon, aber wer ist auch bereit die nötigen Ressourcen aufzubringen: sei es Geld, Zeit oder Know-How. Entsprechend wenig passiert dann leider auch. Personalstellen z.Bsp. in der Stadtverwaltung oder der MLU, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen sollen, sind viel zu wenige und prekär. Die Förderung zivilgesellschaftlicher Akteure, die zu Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Biodiversität arbeiten, fällt viel zu gering aus. Es muss von der Politik bedacht werden, dass all die Dinge, in die wir jetzt nicht investieren, uns später um so mehr kosten werden. Man sieht das vergleichsweise gut in den Bereichen Schulbildung und Gesundheitsversorgung in Deutschland. Im Kontext von Klima spricht man von Umweltfolgekosten und die sind bei Weitem höher, als die jetzigen Investitionskosten wären. Wirtschaftlich gesehen macht es also überhaupt keinen Sinn, hier auf die Bremse zu treten!
Anne H.: Um auch nochmal auf das Thema "Spaltung der Gesellschaft" zurückzukommen. Ich habe das Gefühl, wir müssen noch viel mehr Räume in Städten und auch im ländlichen Raum schaffen, um über neue Ideen und Ansätze in Austausch zu kommen. Über alle Alters- und Berufsgruppen hinweg. Da gibt es zum Beispiel den Feuerwehrmann, der sich beim NABU engagiert und Kurse zum ökologischen Fussabdruck gibt. Es gibt Landwirte, die berichten können, wie sich schon jetzt die klimatischen Veränderungen auswirken und sich dafür einsetzen, u.a. die Anbaumethoden zu ändern. Oder große Unternehmen, die ganz stark die Kreislaufwirtschaft nutzen, um so ressourcenschonender zu arbeiten. Da sind viele Themen dabei, die wir auch in den Langen Wochen abbilden wollen, um mehr Sichtbarkeit zu schaffen, über die bisher schon existierende Vielfalt an Angeboten.
Die Lange Wochen der Nachhaltigkeit finden vom 18. September bis 8. Oktober in und um Halle statt. Alle Veranstaltung sind auf der Webseite: www.lange-wochen.de zu finden.