(WAS) LERNEN wir aus dem Hochwasser?
Das letzte Saalehochwasser hatte Anfang Juni in Halle einen so hohen Stand erreicht, dass es drohte, den Gimritzer Damm zu brechen oder zu überfluten und nach Halle-Neustadt zu laufen. Ein neuer, höherer und der Saale näherer Deich soll künftigen Fluten sicher(er) den Weg in die Neustadt versperren. Nur: wird sich die Saale an seiner Höhe orientieren?
In die Aue gepflanzt
Halle-Neustadt wurde teilweise auf Land gebaut, das der Saale „gehört“, genauer ihrer Flussaue. Aue nennt man die Niederung entlang eines Flusses, die vom Wechsel seiner Hoch- und Niedrigwasser geprägt ist. Pläne für einen Stadtteil im Gebiet westlich der Altstadt und der Saale gab es seit Anfang des 20. Jahrhunderts, sie wurden jedoch aufgrund der ungünstigen Grundwassersituation und der Hochwasserbedrohung nicht umgesetzt. Die aufstrebende Chemiearbeiterstadt Halle in der Nähe der großen Kombinate Buna und Leuna konnte auf zusätzlichen Wohnraum nicht verzichten und baute ab 1964 die Wohnstadt Neustadt. Seit der Fertigstellung muss das Grundwasser ständig durch ein Brunnensystem und durch Pumpen abgesenkt werden. Die Bedrohung durch Saalehochwasser sei, so nahm man an, durch den Passendorfer und den Gimritzer Damm gebannt. Der Wasserstand der Saale korrespondiert mit dem Grundwasser in Halle-Neustadt und jedes Hochwasser lässt es steigen. Bereits beim Januarhochwasser 2011 war der Grundwasserdruck so hoch, dass das Entwässerungssystem überfordert war und teilweise zusammenbrach.
Rückbau zugunsten des Flusses
Seit der Wende hat Halle-Neustadt mehr als die Hälfte seiner Einwohner verloren. Um dem hohen Wohnungsleerstand zu entgehen, wurden Wohnblöcke zurückgebaut, d.h. verkleinert oder auch abgerissen. Die Blöcke hinter dem Gimritzer Damm waren davon nicht betroffen. Verlieren Halle und Halle-Neustadt weiterhin, wie prognostiziert, Einwohner, so wäre im Rahmen eines ganzheitlichen Hochwasserschutzkonzeptes der Stadt Halle zu prüfen, inwieweit es sinnvoll wäre, die Blöcke hinter dem als marode eingeschätzten Gimritzer Damm leerzuziehen und abzureißen und den neuen Deich weiter von der Saale weg zu bauen. Damit würde Retentionsraum gewonnen, Platz, in den hinein sich das Wasser ausbreiten kann. Wenn man Dörfer für den Abbau von Braunkohle umsiedeln kann, warum dann nicht Stadtteilteile zugunsten eines vorausschauenden Hochwasserschutzes?
Nach Auffassung von Dietmar Weihrich (Bündnis 90/die Grünen, MdL) soll man solche Überlegungen nicht ausklammern, es sei aber unrealistisch, sie schnell umzusetzen. Sind erst einmal die von der EU-Hochwasserrisiko-Managementrichtlinie (2007) geforderten Hochwassergefahrenkarten und Hochwasserrisikokarten fertig (bis Ende 2013), müssen sie dafür als Argumentationsgrundlage verwendet werden. Deutlich ist nach dem Junihochwasser: Halle braucht ein ganzheitliches Schutzkonzept, das flexibel mit dem flexiblen „Gegenspieler“ Saale umgeht, anstatt ihn starr weiter einzudeichen; ein Konzept, das ein Nachdenken über unpopuläre Lösungen wie die Entfernung von versiegelten/bebauten Flächen (und seien es Hochhäuser) in Ufer- und Auengebieten oder Deichrückbau zulässt.
Fließen lassen
Über ganzheitlichen Hochwasserschutz ist in diesem Sommer auch auf höchster politischer Ebene gesprochen worden. Da war vom Umdenken beim Umgang mit den Flüssen die Rede… Ist damit ein Ende der Tendenz, aus jedem frei fließenden Gewässer einen Nutzkanal zu machen, in Sicht? Die Funktion eines Flusses ist es ja nicht, uns zu dienen, sondern Wasser abfließen zu lassen. Das Wasser hat sich in der Landschaft Fließwege geschaffen, die den geologischen Gegebenheiten folgen. Diese und der Fluss gehören immer zusammen. Zwingt man den Fluss, anders zu fließen, dann mag das gut gehen, solange nicht viel Wasser abfließt. Kommt aber viel, dann fließt es über die vom Menschen geschaffenen temporären Fließwege hinweg und folgt wieder der Geologie. Befasst man sich mit der Hochwassergefährdung eines Ortes, so kommt man nicht umhin, den gesamten Fluss ins Auge zu fassen. Welchen Weg hat er sich gesucht und warum, welche Zuflüsse bringen ihm Wasser, wo und wie hat der Mensch in seinen Weg eingegriffen? So gehört die Saale spätestens seit dem Bau der sog. Saalekaskade, eines Talsperrensystems in Thüringen, zu den hoch regulierten Flüssen in Deutschland. Da bräuchte die Verwaltung der Hohenwarte-Sperre über Nacht nur mal kurz abzulassen und schon hätte Halle das allerjahrhundertlichste Hochwasser, das man sich denken kann. Entsprechend müssen länderübergreifend Hochwasserschutzkonzepte entlang des ganzen Flusses abgestimmt werden, wobei auch mit den Nebenflüssen „geredet“ werden muss. Während das große Hochwasser von 1994 in Halle dadurch zustande kam, dass die Hochwasserscheitel von Saale und Unstrut bei Naumburg aufeinander getroffen waren, so sind es diesmal die von Saale und Weißer Elster gewesen, die der Stadt die Flut in dieser Höhe beschert haben. Hochwasserscheitel kann man berechnen und das tut man unter anderem mit Hilfe der Messvorrichtungen, die man Pegel nennt. Der letzte Elster-Pegel vor Halle befindet sich in Oberthau. Halle fehlt ein Pegel, der den Wasserstand nach dem Zusammenfluss von Weißer Elster und Saale misst. Dafür bietet sich das hochwassergeprüfte Röpzig als Messort an. Beachtet man dann noch die geologisch bedingten Fließ- und Ausbreitungsgewohnheiten des Wassers in der Stadt und in ihrer Umgebung, so kann man einigermaßen zuverlässige Voraussagen über die Höhe eines Hochwassers treffen.
Erfahrungen für genauere Prognosen nutzen
Halle war unzureichend vorbereitet. Studentische Einsatzbereitschaft, Heldenmut und Unermüdlichkeit der Deichschützer sowie lobenswertes Deichgrafentum vermochten Katastrophen zu verhindern, aber Schäden hat es dennoch zu viele gegeben, z.B. das abgesoffene Multimedia-Vorzeige- Zentrum (MMZ) der Stadt in der Mansfelder Straße. Im Zusammenhang mit dem Deichneubau am Gimritzer Damm, der jüngst im Eilverfahren in Angriff genommen wurde, hat die Stadt eine Wasserspiegellagenberechung durchführen lassen. Das ist ein Modell, das sehr genau berechnet, wie sich ein neues Hochwasser mit eben der Stärke des letzten im Bereich des neuen Dammes und in den anliegenden Gebieten verhielte, wenn der neue Deich so gebaut würde. Im Bericht dazu heißt es: „Rechnerisch geht mit dem geplanten Deichneubau beim betrachteten Hochwasserabfluss ein Wasservolumen von 113.903 m³ und eine Überschwemmungsfläche 78.354 m² verloren.“
Wenn man das alles so genau berechnen kann, WIESO gab es denn vor dem Hochwasser keine entsprechend exakten Prognosen? Hätten damit nicht das MMZ, das Peißnitzhaus, der Robert-Franz-Ring und viele andere besser geschützt werden können? Nun ist es freilich etwas oberschlau, HINTERHER dergleichen einzufordern. Im Rahmen eines ganzheitlichen Hochwasserschutzes aber muss man solche Berechnungen VORHER einfordern. Zumal es dafür gute Datenvoraussetzungen gibt: Das letzte Jahrhunderthochwasser an der Saale, das von 1994, ist, so war vom Halleschen Auenexperten Andreas Liste zu erfahren, gut kartiert worden, auch auf die Erfahrungen vom Januar 2011 kann man zurückgreifen.
Hochwasserschutz in Bundeshand?
Eigentlich hat Halle es ja noch gut. Anders als z.B. in Passau bieten das Umland und die großzügigen Freiflächen im Stadtgebiet (Passendorfer Wiesen, Pulverweiden, Peißnitz und Ziegelwiese) relativ viel Platz. Für die „normalen“ Saalehochwasser reicht er aus, für die „anormalen“ aber nicht. Letztere werden sich häufen. Für den Umgang mit ihnen steht die Forderung, den Blick zu heben und zu schauen, wer sich mit uns den Fluss „teilt“ und wie anderswo mit den Auen umgegangen wird. Denn für unsere Hochwassersituation ist eben auch das Einkaufszentrum verantwortlich, das irgendwo in Thüringen in die Saaleaue gebaut wird und ihre natürliche Funktion als Wasserausbreitungsfläche weiter einschränkt. Unsere Flüsse brauchen MEHR Platz, nicht weniger: Renaturierung heißt das Zauberwort des ganzheitlichen Hochwasserschutzes. Und vielleicht sollte dafür die Zuständigkeit aus der Hand der Länder, die ja am Ende doch auch immer Partikularinteressen verfolgen (müssen), in die Hand des Bundes übergehen. Der hat nun mal den größeren Überblick.
Marianne Heukenkamp
Fotos: Thies Streifinger 2013