Broch! Krachend stürzt die letzte Wand auf den Kellerboden. Ich pfriemle mir die Chirurgenmaske zurecht und freue mich wie eine Schneekönigin: Ein Traum ist wahr geworden!
Endlich mal ’nen Vorschlaghammer geschwungen! Zufrieden in mich hineingrinsend mache ich es mir zwischen Spinnenmumien und Schimmelpilzkulturen gemütlich und lausche andächtig dem Treiben des Kettensägenmassakerbeauftragten. Wir befinden uns nicht in einem viertklassigen Splatter-Movie, auch nicht in „Arachnophobia– Teil 27“. Nein, heute ist „Freiwilligentag“ in Halle und der 15.09.2012: Bürgerinnen und Bürger sind aufgerufen, für Einrichtungen und Organisationen unentgeltlich zu arbeiten.
Ich möchte den Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), Regionalverband Halle-Saalekreis, beim Herbstputz des Schulumweltzentrums unterstützen und reite auf meinem Drahtesel in die Franzigmark. Die liegt nördlich von Halle zwischen Trotha und Brachwitz am östlichen Saaleufer. Das Gebiet ist in Teilen Landschaftsschutzgebiet bzw. Flächennaturdenkmal und beheimatet seltene, mitunter stark gefährdete oder vom Aussterben bedrohte Pflanzen- und Tierarten (z. B. das Glatte Brillenschötchen, den Wasserdrachen und die Berghexe).
Im Schulumweltzentrum angelangt, laufe ich sogleich Menschen vom BUND in die Arme. Zwei Jahre nach der Schließung durch die Stadt will nun der Umweltverband die Einrichtung übernehmen und wieder zum Leben erwecken. Das Gelände ist weitläufig und kann mit so Einigem aufwarten: einer Ökologie-Schule, einem Schullandheim, Ställen, Volieren und Koppeln, einem Gewächshaus, einem Kräutergarten, einem Gebäudekomplex mit Verwaltungsräumen, Hausmeisterwohnung, Werkstatt und Remise, einem Küchenbungalow mit Laube sowie diversen lauschigen Plätzchen zum Herumlungern. Das Herumlungern muss warten, schließlich soll das Umweltzentrum auf Vordermann gebracht werden. Ich trete dem Entmüllungskommando bei. Ob ich nicht doch lieber das Gewächshaus anpinseln oder Holz herumkutschieren wolle, fragt mich ein BUND-Mitarbeiter. Das Entrümpeln sei „nicht ganz ohne“. Hä? Was gibt’s denn zu entsorgen – Kot, Erbrochenes, Leichenteile oder radioaktive Abfälle?! Ich bleibe eisern. Ob ich mich denn dann in einen Schutzanzug hüllen wolle, hakt der Mensch vom BUND nach. Schnickschnack! Überheblich lehne ich ab.
Zunächst widmet sich die Gruppe „Müll“ dem Hauptgebäude: Hier sollen Büroräume des BUND entstehen. Wir hieven ausgediente Computermonitore aus dem Haus, die im Mittelalter oder in der Renaissance in Mode gewesen sein müssen. Danach ist Schluss mit lustig. Der Entrümpelungskoordinator verteilt Atemschutzmasken. „Wir machen jetzt im Keller weiter. Da unten, ämm, sieht’s nicht so gut aus. Da ist seit zwei Jahren nicht gelüftet worden.“ Er öffnet die Tür. Aus dem Kellerloch kriecht eine schwere, modrige, schimmelschwangere Luftmasse empor. Dagegen ist der Keller meiner Oma eine Parfümerie. Wir überprüfen sorgfältigst den korrekten Sitz unserer Atemmasken und Arbeitshandschuhe und tappen tapfer in die funzelige Tiefe. Ich komme mir vor wie eine Mischung aus Howard Carter, dem Entdecker des Grabes von Tutanchamun, und den Lorkowski- Schwestern, die in der Tragikomödie „Sunshine Cleaning“ kurzer Hand eine Tatort- Reinigungsfirma gründen und völlig arglos in ihren ersten Einsatz schlittern. Mit demSchlimmsten rechnend, stelle ich mich auf Leichen tierischer wie menschlicher Provenienz ein. Und tatsächlich: Wir finden uns in einer bizarren Camembert-Welt wieder, in der nicht nur ein Großteil der Artefakte, sondern auch die überall herumbaumelnden Spinnenkadaver mit einer dicken, pockigen, weißen Schimmelschicht überzogen sind. Was nicht aus Metall oder Kunststoff besteht ist hoffnungslos verloren: Teppichböden, Möbel, Nistkästen, Vogelhäuser, Rohwolle, Undefinierbares, Extraterrestrisches. Hin- und hergerissen zwischen Faszinationund Ekel schleppen wir den pilzigen Plunder aus dem Horrorkabinett ins Freie.
13:17 Uhr: Es werden aus Kürbissen bzw. Bohnen gefertigte Suppen gereicht. Anschließend kann man sich mit ebenfalls hausgemachtem Obstkuchen den Bauch vollschlagen. Da sich sämtliche Speisen als überaus deliziös erweisen, besteht akute Überfressungsgefahr. Währenddessen erläutern die alteingesessenen Aktivisten, was im Schulumweltzentrum künftig so abgeht. Da ist zum einen ein Projekt zur Rettung von Wildkatzen und anderen Tierchen, wofür das SUZ als operative Basis fungieren soll. Außerdem sind haustierische MieterInnen (Ziegen) und ein kleines Sonntagscafé mit Kuchen- und Wurstausschank in Planung. Mit opulent gefüllten Mägen lassen wir Freiwilligentag-TeilnehmerInnen uns einige Sehenswürdigkeiten des Areals nahebringen. Im frisch getünchten Gewächshaus, das auch für Ausstellungen genutzt werden soll, machen wir mit Feigenbäumen, Bananenstauden und einem Haufen anderer Pflänzchen Bekanntschaft. Dank ehrenamtlich engagierter Menschen sind sie gut in Schuss bzw. überhaupt noch im Diesseits. Der Gewächshauswart hält spontan ein Referat über die Historie des Umweltzentrums, die ins Jahr 1953 zurückreicht: Als „Station der Jungen Naturforscher und Techniker ‚Juri Gagarin’“ diente es zu DDRZeiten der außerschulischen Bildung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen.
Nach der Wiedervereinigung wurde aus der Station das Schulumweltzentrum mit Öko- Schule und Schullandheim. 2010 war Ende im Gelände: Der Träger, die Stadt Halle, machte das Zentrum dicht. Allein die Öko-Schule gedachte man (an einem anderen Ort) weiterzubetreiben. Das rief den BUND auf den Plan: Die Kampagne „Rettet die Franzigmark“ wurde ins Leben gerufen, und es gelang, nicht zuletzt durch das Votum von fast 8000 erbosten BürgerInnen, das endgültige Aus der Anlage zu verhindern. Derzeit ist der BUND (neben der Öko-Schule) „Mitnutzer“ des Umweltzentrums – eine Übergangslösung. Angepeilt wird ein Pachtvertrag mit der Stadt. Franzigmark- SympathisantInnen können sich übrigens dem „Freundeskreis Franzigmark“ anschließen. Wir schlendern an Schlafplätzen für Fledermäuse vorbei zum Schullandheim. Dort begrüßen uns anmutige Rehlein von einem Wandgemälde herab. Der Aufenthaltsraum mutet wie ein Jagdschlösschen für Arme an. In der modernen Küche hat sich jüngst eine Putzstaffel Ehrenamtlicher ausgetobt. Nächtigen kann man in freundlichen Mehrbettzimmern. Die Herberge ist im Großen und Ganzen bezugsbereit und bietet rund 35 Menschen Platz. Menschen welcher Sorte? „Schulklassen und allen sonstigen Interessierten“, antwortet unser Führer vom BUND. „Echt? Und der Kegelclub aus Possenheim – ist der auch willkommen? Oder Familie Schmotz-Ebersbach, um Tante Renates Sechzigsten zu feiern?“, bohre ich nach. „Ja, durchaus“, bestätigt der Führer. „Viele Nutzungsmöglichkeiten sind denkbar.“
Nach dem touristischen Part darf ich mir im Schreckenskeller einen lang gehegten Wunsch erfüllen und mit einem Vorschlaghammer Schränke zertrümmern, die im Verschimmelungsendstadium dahinvegetieren. Die
HelferInnen über Tage legen sich natürlich ebenfalls ins Zeug, sodass am Ende der Rasen einen Kopf kürzer, ein altersschwaches Zelt in den ewigen Jagdgründen und das neue Büro entmüllt ist; auch Dächer sind vom Unrat befreit, Bäume gestutzt und Wände geweißt. Und doch ist noch mächtig viel zu tun. Vielleicht lege ich da oben in der Prärie bald wieder mit Hand an – als Kräutergarten-Pflegerin, Tapeten-an-die- Wand-Kleberin, Ziegen-Streichlerin? Ich habe Bock. Denn mein Tag als Entrümpelungsassistentin war erhellend, sinnstiftend, beflügelnd und außerdem … spannend und spaßig! Trotz (oder gerade wegen) unseres Ausflugs in die Pilze. Nachtrag: Inzwischen sind Ziegen und Schafe ins Schulumweltzentrum eingezogen, das BUND-Büro ist eingerichtet und der geneigte Besucher kann sich sonntags mit einem kleinen Imbiss stärken.
Katharina Wibbe/ Text & Fotos