Ganz alltägliche Menschen, die nicht-alltägliche Dinge tun, stehen im Mittelpunkt dieser Porträtreihe. Um es vorwegzunehmen: Juana Kavalier ist kein Künstlername, wie mir die zupackende, bodenständig wirkende 40jährige grinsend versichert. Juana (mit J gesprochen) heißt sie von Geburt an, und den schönen Nachnamen hat sie geheiratet. Seit drei Jahren engagiert sich die ausgebildete Schlosserin im Postkult-Verein. Genauer gesagt, sie ist eine der guten Seelen im Umsonstladen.
Ja, richtig. Die Assoziation stimmt. Ein Geschäft, in dem nicht bezahlt werden muss. Mann und Frau können hier Dinge hintragen, die sie nicht mehr brauchen. So wie das Paar mit der großen Reisetasche und den beiden voll gestopften Plastiktüten, das gerade eintrifft, als ich auf meine Gesprächspartnerin warte. Im nächsten Augenblick verabschiedet sich ein freundlich lächelnder junger Mann. Er gibt Siegrid, die hinter dem Ladentisch steht, und mir Wildfremden die Hand und trägt sein Schnäppchen aus dem Sozialtreffpunkt im Böllberger Weg 5. Hier gehen Menschen ein und aus, die sich gewöhnlich nicht begegnen. Ganz Arme und Wohlhabende, Gutsituierte. Dass sie sich nicht nur die Klinke in die Hand geben, sondern miteinander ins Gespräch kommen, ist das Verdienst der Engagierten, die den Laden am Laufen halten. Die adrette Rentnerin Siegrid fand auf Vermittlung der Freiwilligen- Agentur zu Postkult. Sie wollte nicht nur zu Hause sitzen, sondern etwas Sinnvolles tun und in Kontakt mit anderen kommen.
Juana lebt schon einige Jahre im Glaucha-Viertel, weiß um die sozialen Probleme im Kiez und kennt die Familiengeschichten vieler KundInnen. Vor drei Jahren wurde der Umsonstladen zunächst in der Schwetschkestraße eingerichtet. Das kam Juana gerade recht, sie brauchte eine neue Beschäftigung, da sie sich selbst gerade in einer schwierigen Situation befand. „Ich konnte meinen ganzen Ärger und Frust in die Wand schrauben.“ Ihr Job im Spielehaus war von heute auf morgen gekündigt worden. Fünf Jahre hatte sie dort gewirkt: hinter dem Tresen, als Reinigungskraft und vor allem als ehrenamtliche Mitspielerin. Juana betrachtet ihr Engagement als soziale Arbeit, auch wenn sie keine Ausbildung dafür hat. Ihre Lebenserfahrung und ihre Menschenkenntnis befähigen sie mehr dazu als manch einen ausgebildete ErziehungswissenschaftlerIn. Deren Arroganz im Umgang mit „sozial schwacher Klientel“ musste sie im Spielehaus beobachten. Damals konnten nachmittags die Kids aus dem Viertel zum Spielen kommen. Vielleicht fühlte sich mancher dadurch gestört. Vielleicht wurde Juana gefeuert, weil sie zum Beispiel mit jungen Punks beim Dart das Rechnen übte? Heute dürfen Kinder nur noch in Begleitung Erwachsener in den Spieletreff auf dem Gelände der Franckischen Stiftungen. Und Alkohol gibt es schon am Nachmittag.
Mein Gegenüber ist keine Frau der großen Worte. Ihr Werdegang in Stichworten: Geboren in Bernburg, aufgewachsen in Nienburg. Einziges Kind. Vater Jahrgang 1936 – die HJ-Ausbildung hat man ihm immer angemerkt. Beide Eltern arbeiteten im Drei-Schichtsystem. Zementwerk. „Großgezogen hat mich eine ältere Dame. Sie war nicht mit mir verwandt, aber ich habe sie Tante genannt. Wir lebten in ihrem Haus. Ohne sie würde ich nicht hier sitzen und reden können. Von ihr habe ich fürs Leben gelernt: Ruhe und Geduld sind das Elementarste.“ Mit neun Jahren hatte Juana einen schweren Unfall: doppelter Schädelbasisbruch. Das Sprechzentrum war geschädigt. Tante hat die Worte immer wieder vorgesprochen und gewartet, bis das Kind sie herausbrachte. „Wiederholungen sind wichtig. Unbewusst wende ich in meiner Arbeit mit Kindern an, was mir selbst vermittelt wurde.“ Auf Grund der Fehltage, nicht wegen zu schwacher Leistungen, erfolgte die Zurückstufung in der Schule. Der Makel des vermeintlichen Sitzenbleibens blieb haften. Natürliche Reaktion: „Schule – da kannste ‘nen Haken dranmachen.“ Deshalb nur acht Klassen und dann die Ausbildung zur Betriebsschlosserin. Dann kam die Wende: „Im Westen“ fand sie keinen Einstieg in den Beruf – der Abschluss wurde nicht als gleichwertig akzeptiert. So folgte 1993 der Neustart mit einer Lehre als Köchin. In der gastronomischen Praxis machte sie Erfahrungen mit der Unvereinbarkeit von ethischem Anspruch und Wirtschaftlichkeit. Als tausend überlagerte Steaks an Behinderte ausgegeben wurden, war das Maß für sie voll. „Du musst nicht zu allem Ja und Amen sagen!“ ist ihre Maxime. Konsequenz: Sie kündigte.
Es folgten die Jahre fröhlichen Jugend- und Partylebens in Halle. Nach ihrem Coming-Out hatte sie sich entschieden, in der Saalestadt zu leben. Die Szene war bunt und aufregend. Ihre Arbeit in Diskotheken schärfte Juanas Blick für soziale Verwerfungen. Sie erlebte, wie Schwangere Drogen zu sich nahmen und Dealer neue KundInnen anfixten. „Nach einem Schuss schon hängst du an der Nadel.“ Davor möchte sie die Kids bewahren. „Vieles ändern kann man sowieso nicht und schon gar nicht allein.“ Aber sie tut, was sie kann, im Verein, um den Benachteiligten einen Ort zu geben, wo sie akzeptiert werden und Zuwendung finden. Soziale Ausgrenzung beginnt für sie beim Schulsystem. „Was soll da rauskommen, wenn ich schon beizeiten höre: Ich bin Elite, oder: ich bin das Letzte?! Du hast keine Wahl als Kind und als Erwachsener schon gar nicht. Die blutlose Revolution in der DDR, weißt du, warum die funktioniert hat? Weil alledieselbe Bildung hatten. Man wusste, dem einen fällt es schwer, der anderen weniger. Uns fehlt das gemeinsame Lernen. Es ging mit der DDR zu Ende, weil alle die gleiche Wahrnehmung hatten. Wir wussten, dass es so nicht mehr weitergehen konnte.“ Es ist kalt im Umsonstladen, noch ist alles im Umbau, es gibt keine Heizung.
Nach zwei Stunden Interview sind wir tüchtig durchgefroren. Juana schmeißt eine Wärmeplatte an – so eine, mit der im Restaurant Speisen auf Temperatur gehalten werden. „Da könnt ihr eure Hände drauflegen.“ Und jetzt liegen da vier Paar Hände – drei Paar weiße (Siegrids, Juanas und meine) und ein Paar schwarze. Das sind die von Alassane. Ursprünglich stammt er aus Burkina Faso. In Deutschland ist es kalt, aber im Umsonstladen gibt es Wärme. Er ist seit mehr als einem Jahr Helfer hier.
Solveig Feldmeier
Foto: Streifinger 12/2012
Postkult Im Januar 2007 wurde der Postkult e. V. gegründet und das alte Postamt in der Triftstraße mit einem interkulturellen Festival im Juni 2007 zu neuem Leben erweckt. Der Verein setzt sich für die Bereicherung des Kulturlebens ein und macht es sich zum Ziel, kreativen Menschen auch außerhalb von kulturellen und künstlerischen Institutionen eine Plattform zu bieten. Dabei legt er seinen Schwerpunkt auf die Wiederbelebung von leer stehenden Gebäuden und Gebäudeteilen. Unsere urbane Umwelt wird als Gestaltungsraum begriffen. In Glaucha (südliche Innenstadt) entstanden zwei auf Dauer angelegte Projekte, der Stadtgarten Glaucha und der Umsonstladen.
Die Öffnungszeiten des Umsonstladens:
Montag 16:00 bis 19:00
Dienstag 10:00 bis 13:00
Mittwoch 16:00 bis 19:00
Donnerstag 10:00 bis 13:00
Freitag 16:00 bis 19:00
Postkult e. V.
Böllberger Weg 5
06110 Halle