Als ich heute morgen die Bilder des Anschlages in Hanau sah, überkam mich ein Gefühl das über das Entsetzen einer solchen Tat hinaus geht. Ich sah etwas Vertrautes. Etwas Bekanntes, eine Erinnerung die gewaltsam verändert wurde. Für mich als neue Hallenserin hätten es die bekannten Bilder von Polizei und Krankenwagen sein können, die dieses Gefühl hervorrufen. Auch in meiner ersten Woche in dieser Stadt war die hiesige Bevölkerung von einem ähnlichen Angriff heimgesucht worden. Doch es war etwas anderes.
Eine Nacht.
Ein Traum, nein Albtraum.
Eine Erinnerung die aufkommt
an ein Leben
das jetzt nicht mehr ist,
aber immer noch sein könnte.
Könnte es?
Ich bin dort vergangen,
spurlos.
Doch im Gegensatz zu den Anderen,
existiere ich noch immer.
Darf träumen.
Darf leben.
Darf weiterziehen.
Es tut mir so leid.
Ich wünsche mir sehr
ihr hättet weiter leben dürfen.
Vor Halle war Hanau mein Zuhause gewesen. Ich kenne den Anblick des Tatortes. Meine erste eigene Wohnung, die ich mit 18 Jahren bezog, lag direkt gegenüber. Der rosa Plattenbau war für mehrere Jahre mein Zuhause. Ich war diese Wege Tag für Tag gegangen, habe mich täglich mit Hingabe der Begrünung meines Balkon gewidmet und auch wenn ich weitergezogen war, fühlte es sich an, als wurde letzte Nacht meine Erinnerung geschändet. Und es fühlt sich sehr persönlich an.
Hanau-Kesselstadt ist ein Ort der Vielfalt, ein Viertel mit einem so hohem Migrationsanteil, dass es eine solche Bezeichnung eigentlich unnötig macht. Ein Viertel mit mehr türkischen und russischen Einkaufmärkten als deutschen Ketten. Ein Viertel, in dem im Sommer die Wiesen voller Picknickdecken sind, der Kioskbesitzer immer rotes Kratzeis für mich da hat, die Verkäuferinnen im Rotes- Kreuz-Laden alle Neuigkeiten über dein Liebesleben hören wollen und man das beste Fladenbrot überhaupt für 80 Cent bekommt.
Von meiner Arbeit mit dem Spielmobil Augustinchen kannte ich die Kinder des Viertels, mit meiner marokkanischen Nachbarin schaute ich Abends Serien wenn ich mich alleine gefühlt habe und manchmal holte ich Abends meinen Kumpel bei seinen Eltern nebenan ab und wir gingen mit seinem Hund durch die Nacht spazieren. Tagsüber saßen die türkischen Omas in der Sonne und quatschten, die Herren wollten mir im Sommer regelmäßig helfen, indem sie mir mitteilen das ich wohl meine Schuhe vergessen haben muss und der arme Busfahrer wartete jeden Morgen auf mich. Vor dem Schloss Philippsruhe finden pro Tag mindestens drei Fotoshootings von türkischen Hochzeiten statt. Ich habe es geliebt am Springbrunnen zu sitzen und die Bräute mit ihren glitzernden Ballkleidern zu beobachten.
Hanau Kesselstadt ist ein Ort voller Leben, mit vielen Familien, den verschiedensten Menschen und einem großen Austausch auf den Straßen. Ein Viertel, fast vom Rest vergessen mit hässlichen Plattenbauten, gescheiterten Existenzen und Armut. Und doch auch ein Paradebeispiel dafür welches Potential und welche Schönheit eine vielfältige und durchmischte Gesellschaft hervorbringen kann.
Ich frage mich ob ich die Verstorbenen gekannt habe. Ob es einer der Gesichter waren die noch in meinen Erinnerungen herumspuken. Vielleicht ist es gut das ich es nicht weiß, so können sie wenigstens in meinen Erinnerungen ein friedliches Leben führen.
Nach dem Anschlag in Halle schrieb mir meine 69-jährige Großmutter: „Aber man muss weiter an seine humanistischen Ideale glauben. Denk an Berlin. Lasst euch nicht verängstigen. Sie wollen Chaos. Lebt euren Alltag, redet miteinander und habt weiter Freude. Gute Tage für Euch.lg,hdgdl“ und das ist meiner Meinung nach der einzig richtige Weg mit dem Grauen umzugehen.
Luise von Cossart