Der Dichter André Schinkel betreibt Wanderungen als literarische Existenzform. Dabei entstehen nicht selten hybride Miniaturen zwischen Lyrik und Prosa - in bester literarischer Tradition von Heine bis Czechowski. Sein Text führt in eine Landschaft im Norden von Halberstadt, deren Schönheit durch die Zeichen der Fluktuation um so schmerzlicher hervorsticht.
André Schinkel ••• Auf dem Huy
Sehr schön schiebt sich der Huy, wenn man Halberstadt nach Norden verläßt, in den Blick, seine sanfte Schwingung gaukelt für einen Moment den Beginn eines mächtigen Gebiets vor, die Krönung des Höhenzugs durch die Huysburg tut ein Übriges für diesen vorübergehenden Eindruck. Bei genauem Hinsehn erkennt man schnell diese Ambivalenz zwischen Wucht und Kleinheit – ist man das Fahren von Serpentinen gewohnt, hat man ihn von Süden nach Norden in wenigen Minuten durchquert, und man schmiegt sich ihm seitlich an, durchquert Röderhof und Dingelstedt und bleibt ihm doch immer bei der Seite: rechter Hand die aufbrechende Bördelandschaft, über der die Krähen, linkerhand das Miniaturgebirge, über dem Raben, Bussarde und Milane kreisen. Eine gesegnete und verlorene Landschaft zugleich: wenn man einmal Rast macht am Rand der Alleen und Landwirtschaftsstraßen, hat man vielleicht Glück und hört das Läuten der Glocken im Kloster. Als ich im letzten Jahr für drei Monate in dieser Gegend war und an meinen in der großen Stadt nicht beendbaren Texten werkelte, war ich erschüttert und fasziniert zugleich von der großen Ruhe, die hier abseits der Triftwege herrscht. Mit der Compagnera, mit der ich mir das Künstlerheim teilte, und ihrem Verbündeten, einem wackeren Ford, lebte ich in staunender Eintracht, verwirrt von der aus den Winterlagern heimkehrenden Flut Waldgefieder und dem majestätischen Rauschen der Bäume vor fast menschenleeren Rängen. Wir durchfuhren die Landschaft, umrundeten den Huy, durchkämmten die Ortschaften nach Blicken und Nahrung. Was uns auffiel in dieser dem Harz vorgelagerten Idylle, war, daß der Gedanke der Verlorenheit nicht von der Hand zu weisen ist – das alltägliche Leben im Schatten des Huy ist nicht für jeden gemacht, und es findet sich bei weitem nicht für jeden ein angemessenes Tagesgeschäft. Die Compagnera begann sich für die aufgegebenen Höfe und Krüge der Gegend zu interessieren. In nahezu jeder Ortschaft fand sich ein solcher Gasthof, nicht selten sogar mit den Zeichen, daß er bereits ein zweites Mal aufgegeben worden war. Das schöne Idyll war an dieser Stelle durchlässig geworden – entweder ging hier niemand mehr in die Kneipe, oder es konnte sich keiner mehr leisten. Der „Gambrinus“, ein verlassenes Gastgehöft zwischen der Auffahrt zum Kloster und dem Klosterdorf Röderhof, wurde dabei zum Symbol für diesen Umstand, die Bushaltestelle vor seinen Mauern war dadurch eigentlich sinnlos geworden, sie wurde dennoch und wie zum Trotz noch bedient. Der Dornröschenschlaf berührt wohl jeden Künstler, der hier die Möglichkeit zum Arbeiten bekommt; und so einte das „Gambrinus“-Thema eine Fotografin, eine Buchkünstlerin und einen Autor auf einer Spurensuche, die so frappierend wie aufregend war. Möge es sein, daß die Resultate dieser dreifachen Erwägung nicht nur ein Denkmal für das Aufgelassene sind, sondern zugleich eine Ermutigung, sich der Schönheit dieser Landschaft zu stellen und die Kunde von ihrer Bewahrwürdigkeit weiterzutragen. Die Aufgabe des Künstlers scheint es heute, wo man längst keine Vorstellung vom Wesen eines Künstlers mehr hat, zu sein, mit dem Mond zu kommunizieren und den Fall der Leoniden zu dokumentieren. Aber er hat auch die Aufgabe, sich den vergessenen Erdstrichen zuzuwenden und Kunde zu geben von Möglichkeiten, die sonst womöglich keiner wahrnimmt. Vielleicht, daß man dem Huy gar keine Myriaden wünscht, die Hahnenfüße, die Lerchensporne zu zerlatschen – aber eine Art Aufmerksamkeit, die etwas über die Würde der Gegend herausfinden will, die wünscht man ihm, und einen Unerschrockenen, der sich vorstellen kann, daß im „Gambrinus“ dereinst wieder Bier ausgeschenkt wird …
Abbildung oben: Collage aus 2 Arbeiten aus der
Postkartensammlung Bildraum Natur Nr. 1-8
Druck, Originalvorlagen handgezeichnet von Olaf Wegewitz
Auflage: 250
links: N° 3 »Forstbaum« Aufruf zur Initiative Waldleben nicht – sterben
rechts: N° 5 »Giftbauern lauern« Aufruf zur Initiative Giftfrei leben