Das Superlutherjahr 2017 läuft auf Hochtouren– nach zehn Jahren Dauerschleife soll der Reformator nun die Investitionen in den Landestourismus wieder einspielen. „Luther soll Wirtschaft beleben“ heißt es also vereinnahmend auf der einen, aber auch „Weg mit Luther“ auf der anderen Seite, wenn etwa wie in der ‚Jungen Welt‘ eifernd gefordert wird, ihn durch Umbenennungen aus dem öffentlichen Raum zu tilgen. Dr. Tanja Täubner lässt im Gespräch mit Jörg Wunderlich unbekanntere Aspekte des Martin Luther anklingen.
Im Vorgespräch hast Du geäußert, dass die Situation vor 500 Jahren eine ähnlich spannende war wie heute. Könntest Du das kurz ausführen?
Heute wie damals existierte ein starkes Machtkartell, von dem auch das aktuelle Weltbild gezimmert und vor 500 Jahren über den Ablasshändler unters Volk gebracht wurde. Heute sind das andere Kanäle. Damals glaubte das Volk wie auch die meisten Mönche an diese religiöse Leistungsethik, ja sie mussten glauben, weil sie keine anderen Informationsquellen hatten. Das Zerstörungspotential, das hinter der heutigen materiellen Leistungsethik steckt, ist unvergleichlich größer als vor 500 Jahren; aber die Netze der Manipulation sind etwas durchlässiger als damals.
In welcher gesellschaftlichen Funktion agierte Luther zum Zeitpunkt seines Thesenanschlags?
Der Thesenanschlag ist wirklich ein Mythos, der, weil er so schön ist, immer noch aufrecht erhalten wird, der aber geschichtlich nicht funktioniert. Die Forschung zeigt, dass Luther sich mit seinen Thesen in einem Brief direkt an seinen Kirchenherrn wandte, der nicht in Wittenberg residierte. Als er das tat, war er immer noch Mönch. Er hat im Wittenberger Kloster gewirkt, war aber auch schon Bibelprofessor und hatte bereits einige Vorlesungen gehalten. Kardinal Albrecht als Adressat der Thesen war Erzbischof von Halberstadt und Magdeburg und im Alter von 23 Jahren hatte er noch die Diözese Mainz hinzubekommen. Das war durchaus eine ungewöhnliche Ämterhäufung, könnte man sagen, und sie kostete auch was.
Diese Kirchenämter hatte sich Albrecht ja auch gekauft ...
Genau, deshalb musste er an Rom zahlen. Weil er aber auch lebenslustig war und das Geld nicht hatte, hat der Vatikan ihm erlaubt, dass er sich das Geld bei den Fuggern leihen konnte. Damit war Albrecht von Geldgebern abhängig und musste mit hohen Zinsen das erkaufte dreifache Bischofsamt abzahlen. Diese Idee, dass es einzig um die Peterskirche in Rom ging, die man mit dem Ablasshandel finanzieren wollte, war nur vorgeschoben. Dahinter standen die Machtinteressen gerade dieses Erzbischofs Albrecht.
In Halle wird auch eine Anekdote vom Ablasshandel erzählt. Damals hatte ein honoriger Herr einen Nebenbuhler einfach um die Ecke gebracht und diesen Mord mit einem Ablassbriefchen vom Herrn Tetzel legitimiert. Wenn man sich solche Unrechtszustände vergegenwärtigt, wundert man sich nicht, dass irgendwann ein aufrechter kämpferischer Glaubensmann dagegen vorgehen wollte.
Das eigentlich Spannende an Luther und dem Impuls für die Reformation ist eben nicht ersichtlich, wenn man es nur auf das Unrecht beim Ablasshandel beschränken will. In seinen Augen ging es vor allem darum, dass durch diese Praxis in religiösen, in innerlichsten Fragen, gewissermaßen Lügen verbreitet worden sind. Luther sagte, wenn du viel dafür tust, Ablass zu kaufen, um damit deine zeitlichen Strafen zu vergelten, dann geht das so eigentlich nicht, sondern es braucht andere Formen, um davon frei zu werden, also wieder in Gottes Gnade zu kommen.
Inwiefern hatte Luther denn direkt von Lüge gesprochen?
Es war ein theologischer Disput. Er hat von Irrtümern gesprochen, die die Kirche verbreiten würde und gesagt, dass er diese Lehre, die die Scholastik und damit die Papstkirche vertrete, widerlege, indem er auf die Quellen zurückgehe. Der Ablasshandel war nach seiner Auslegung nicht mit der Bibel zu begründen und damit aus Luthers Sicht ein Irrtum – durch die höchste Autorität der Kirche verbreitet. Das hat natürlich eine ungeheure Kraft, wenn man sagt: Ich ermutige mich, in die Welt zu gehen und greife das Dogma, das von höchster Stelle verbreitet wird, an.
Hat denn die Papstkirche ihre Ablass-Dogmen ebenfalls theologisch begründet und sich damit legitimiert?
Auch der „Ablassbeauftragte“ Tetzel hat eine eigene Begründungsschrift herausgebracht, nachdem Luther seine Thesen veröffentlicht hatte und mit Gegenthesen argumentiert. Die Scholastik hatte ja auch ein großes Schrifttum, auf das sie zurückgreifen konnte. Das besondere bei Luther ist, dass er wie eine Leuchtfigur durch eine besondere persönliche Konstellation angefangen hat, diese Autoritäten zu kritisieren, indem er – und das war damals nicht üblich – die Schrift selber lesen wollte.
Aus heutiger Sicht ein wissenschaftlicher Ansatz, ein Akt der Aufklärung, so wie Galileo gesagt hat, da guck ich doch lieber mal durchs Fernrohr, ich schaue selbst nach, wie die Dinge liegen.
Genau. Da haben wir Luther nämlich auch schon am Schlafittchen, die Frage, wie der Mensch selber zur Wahrheit kommen kann, ohne dass ihm Autoritäten diese Wahrheit vermitteln müssen.
Das klingt nach einem emanzipativen Akt, der natürlich als Rebellion verstanden werden musste, und der riesige Folgen hatte. Wer ist ihm denn zuerst gefolgt, seine Kollegen, seine Gemeinde oder seine Studenten?
Es folgten ihm zuerst Freunde im Gelehrtenkreis, einerseits auch Theologen, junge reformorientierte Dominikanermönche, aber auch Humanisten. Er hat ein paar Thesen für die Humanisten geschrieben, aber da fühlten sich auch die jungen Dominikaner sehr angesprochen, obwohl dieser Orden es ja eigentlich war, der den Ablasshandel betrieben hatte. Die Reformation kann, wenn man genauer hinschaut, so auch als eine konfrontierende Begegnung zweier großer Orden verstanden werden – des Dominikanerordens, aus dem Thomas von Aquin und andere Aristoteliker hervorgingen und des Franziskanerordens für die Platoniker in dieser Linie bis zu Luther. Und die Heidelberger Disputation von 1518 spitzte das richtig zu.
Bitte noch mal ein Jahr zurück: Was genau stand also in dem Thesenbrief von 1517?
Er hat am 31. Oktober 1517 seinen Brief an den Erzbischof Albrecht von Mainz geschrieben und die 95 Thesen angehängt. Darin wollte er ihn in Kenntnis setzten über die Missstände, die in seinem Land herrschten und er forderte seinen Kirchenherrn zu einer gründlichen Revision auf. Gleichzeitig drohte er, dass wenn die nicht kommen würde, er
dann doch genötigt sei aufzustehen und mit der Wahrheit die Kirchenlehre zu widerlegen.
Da ist doch aber bereits ein starkes messianisches Selbstbild darin enthalten. Wo kommt denn das in diesem Moment schon her?
Ich glaube, diesen Messianismus entwickelte er in der Zeit im Kloster, die ihm die Kraft gegeben hat, zum Reformator zu werden. Es gibt eine schöne Anekdote. Er hieß ja eigentlich Martin Luder, mit D also, und nach dieser inneren Befreiung, die er erlebt hat, nachdem er sich so lange mit der Bibel herumgeschlagen und seine neue Auslegung gefunden hatte, die für ihn die Wahrheit war, eine neue Idee vom Glauben, hat er sich umgetauft, hat sich also einen griechischen Namen gegeben, und zwar Leutherius – der Befreite. Und so hat er sich gesehen, eher als jemanden, der in der Reihe der christlichen Märtyrer zu finden ist. Der Kardinal Albrecht hat sich dann in Rom beschwert über ihn und gewissermaßen Klage gegen Luther erhoben.
Er ist also auch bereit gewesen auf dem Scheiterhaufen zu sterben?
Ja, als er 1518 zum Reichstag nach Augsburg fuhr, hat er Briefe in die Heimat geschrieben, dass er das Gefühl habe, er müsse jetzt für seine Sache sterben, aber auch, dass er dazu bereit wäre ...
Wie verhält sich denn der Kampf um den wahren Glauben, wie ihn Luther führte, zur Figur des modernen Gotteskriegers, wie er uns heute entgegentritt?
Es verhält sich wie zwei Antipoden, weil das was immer noch heutig und wirklich interessant ist, ist für mich der junge Luther, der als Mönch ganz mutig und verzweifelt um eine Wahrheit ringt, da diese mit seiner Identität zusammenhängt. Da ging es richtig ums Überleben. Wir waren dort stehengebleiben dass er den Mut hatte, anzutreten gegen dieses unverrückbare Weltbild, welches die Kirche mit großen Universitäten immer wieder erneuerte, wovon der Ablasshandel nur die materielle Stufe war. Die Menschen waren dem komplett ausgeliefert, denn sie konnten ja selbst nicht überprüfen, was ihnen da gesagt wurde. Deswegen war es so wichtig, dass jemand aus dem Gelehrtenkreis, der dazu in der Lage war, sich stark machte für die einfachen Menschen, dass der sagte: „Nein – ich bin zu den Quellen zurückgegangen, und ich stehe mit meiner ganzen Person für diese Wahrheit, die ich gefunden habe.“ Es ging ihm also schon um eine Befreiung des Denkens der Menschen.
Ja, diesen Kampf hat er für sich geklärt und sich durchgesetzt, aber danach hat er selbst eine Apotheose erfahren, was er sicherlich nicht wollte, Fakt aber war, dass er dadurch zu einer Autorität wurde. Auf dieses Verhältnis wollte ich noch einmal hinaus, weil er ja nicht gerade mit Toleranz geglänzt hat in dieser späteren Rolle.
Die Toleranz verlangen wir heute, die Freiheit, uns einer anderen Religion gegenüberzustellen und sie erst mal offen anzuschauen, ohne sie zu verteufeln. Er aber stand in einer anderen Situation. Es gibt den jungen Luther und den älteren Luther. Er wollte ja nie die Trennung der Kirche, und dann ist es aber passiert und er musste sich positionieren. Und in dieser Situation, wo dann plötzlich die Bauern rebellierten und es solche Prediger gab wie Müntzer, musste er politisch agieren. Vielleicht kann man auch schlichtweg sagen: Er war überfordert. Als Mönch war er am richtigen Platz und als Bibelprofessor, der diese direkte Beziehung zum Göttlichen gepflegt hat über die Bibel. Aber als er als politische Person befragt worden ist, war er überfordert. Ihn aber heute vom Sockel zu stoßen und zu sagen, hier und da entsprichst Du nicht unseren aufgeklärten Ansprüchen, das wäre ein Bildersturm und würde ihm historisch nicht gerecht werden.
Diese Frage des historischen Blickes ist ja genau das Schwierige, weil er ein tiefgläubiger Theologe war, und die heutige Säkularisierung damals überhaupt noch nicht vorstellbar. Was aber können wir als heutige, oft konfessionslose Freidenker – von Luther in diesem Lutherjahr empfangen???
Was glaube ich nicht gelungen ist – und das sagt der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann auch – das, was in der Forschung entdeckt worden ist, so differenziert und widersprüchlich es auch ist, irgendwie zu transportieren in das, was die Gesellschaft von ihm weiß. Also es ist alles komplett oberflächlich und der Luther ist in der Wahrnehmung tatsächlich so abgeschmolzen, dass man von ihm nichts mehr lernen kann.
Diese Einschätzung würde ich gern bestätigen. Denn wenn unser Ministerpräsident bei der Grundsteinlegung für das neue Bauhausmuseum in Dessau einen Playmobil-Luther aus Plastik im Boden versenkt, ist das ein deutliches Bild für das, in welchen oberflächlichen Kulturfetisch das heute eingebunden ist. Du hast einen ganzen Lebensabschnitt lang zu Luther geforscht und bist dafür auch als Quereinsteigerin in die Theologie gegangen. Welchen Luther hast Du dabei entdeckt und wie verhält sich dieses Lutherbild, das du gewonnen hast, zu den bestehenden?
Ich denke inzwischen, dass so viele Lutherbilder existieren, wie es Forscher gibt. Ich bin ja in einem atheistischen Elternaus groß geworden, konnte also ursprünglich mit dem Glauben gar nicht so viel anfangen. Aber ich pflege seit einigen Jahren eine buddhistische Meditationsmethode, und das hat sich dann in meiner Forschung verbunden. Ich könnte sagen, einen Luther entdeckt zu haben, der den Glauben neu verstanden hat als eine vita passiva, also eine Lebenshaltung, wo ich, egal was passiert, versuchen muss, mich – er hat Christus dafür eingesetzt – an Christus anzubinden, um gewissermaßen eine geistige Ruhe zu bekommen, mit der ich auf Ereignisse und mein eigenes Seelenleben schauen kann, und dass sich dann anfängt, mein Menschsein zu wandeln.
Also da passiert etwas in dir, was dich auch erschrecken und faszinieren kann, dass dem Menschen doch diese geistige Sphäre zusteht und diese mit ihm auch kommunizieren will, nur dass der Mensch sich dafür öffnen muss. Bei Luther konnte ich meine eigenen Meditationserfahrungen wiederfinden. Wenn man sich tiefer und eingehender mit den Weltreligionen beschäftigt, dann findet man da Ähnlichkeiten. Und das war für mich hoch faszinierend.
Dr. Tanja Täubner, Erziehungswissenschaftlerin, Radioautorin und Yogalehrerin, Dozentin für Anthropologie und nachhaltige Lebensweisen, hat über christliche Meditationen im 16. und 17. Jh. promoviert.