Kein Protest, sondern Kompass für zukünftige Entwicklung sollte er sein, der erste gesamtdeutsche Bürgerrat 2019. Als bislang einmaliges bundesweites Modellprojekt gestartet, wurden per Zufallslos einhundertsechzig Menschen deutscher Staatsangehörigkeit in ein politisches Gremium berufen. An zwei Wochenenden in Leipzig diskutierte diese basisdemokratische Versammlung mögliche Werkzeuge zur Erweiterung der bestehenden Demokratie. Die Hallesche Störung war vor Ort und sprach mit zwei berufenen Mitgliedern aus unserer Region.
Lisa Marie Speichert lebt in Pouch (Gemeinde Muldestausee) und studiert 'Management Natürlicher Ressourcen' an der Martin-Luther-Universität Halle.
Christian Birkner arbeitet als IT-Spezialist im “Solar Valley“ und lebt seit seinem Studium in Dresden wieder in seiner Heimatstadt Bitterfeld. Beide sind parteilos und politisch bisher nicht aktiv.
Wie fühlte sich der Moment des Ausgewähltwerdens für Sie an, als die ohne Vorwarnung eine Berufung in den Bürgerrat erhielten?
Christian Birkner: Ich habe das Schreiben aus dem Briefkasten geholt und gedacht es sei Werbung, was mich erst ein bisschen abgehalten hat. Dann habe ich es mir durchgelesen und auch relativ schnell gesagt dass ich das auch machen möchte.
Lisa Speichert: Die Postkarte war irgendwie komisch. Ich wusste nichts damit anzufangen und auch nachdem ich mich informiert hatte, musste auch erst einmal eine Nacht darüber schlafen ob ich überhaupt antworten werde.
Gab es auch den Gedanken der Ablehnung bei Ihnen ?
Lisa Speichert: Ja, ich dachte mir, was soll ich da genau tun? Für Politik habe ich mich schließlich noch nie interessiert.
Christian Birkner: Bei mir nicht. Bei vielen anderen mit Sicherheit. Es wurden wohl insgesamt zwei- bis dreitausend Leute angeschrieben, und die Veranstalter waren mit der Quote von fünf Prozent am Ende sehr zufrieden. Sie können also davon ausgehen dass sehr viele auch nein gesagt haben.
Teilen Sie die Grundthese, dass die Demokratie eine Erneuerung und Erweiterung braucht, oder stehen Sie als Wahlbürger auf der zufriedenen Seite?
Christian Birkner: Ich war vorher schon auf der Seite, dass man erweitern müsste, denn es gibt ja Anzeichen, dass es vielleicht Updatebedarf in der Demokratie gibt. Und der Bürgerrat war ja dahingehend eine selbstverstärkende Veranstaltung. Ich glaube nicht dass jemand mit einer geschwächten Position gegen Bürgerbeteiligung hier rausgegangen ist, ich sicherlich auch nicht.
Lisa Speichert: Ich absolut die Meinung, dass wir mehr Demokratie benötigen.
Haben Sie, außer dass sie zur Wahl gehen, schon mal eines der bestehenden Elemente direkter Demokratie genutzt?
Christian Birkner: Ja, habe ich. Das ging aber bisher nicht über die Zeichnung einer Onlinepetition hinaus. Vielleicht habe ich auch ein bis zwei mal bei einer Person auf der Straße unterschrieben.
Lisa Speichert: Nein.
Wie haben Sie Ihre Teilnahme konkret an Ihrem Tisch erlebt, wo sie mit den anderen Ausgewählten zusammensaßen?
Lisa Speichert: Es war sehr überraschend wie diszipliniert und vernünftig sich alle miteinander unterhalten haben! Jeder kam zu Wort, es war nie laut oder gab eine unangemessene Situation. Es haben sich wirklich alle angestrengt und mitgemacht. Wir sind teilweise so vertieft in unsere Diskussionen gewesen, dass wir bis in die Pausen geredet haben. Und die Pausen waren uns dabei keineswegs wichtig.
Christian Birkner: Es war so organisiert, dass man an jedem der vier Tage eine andere Zusammensetzung am Tisch hatte. Ich habe also 24 verschiedene Leute dort erlebt, mit denen ich diskutierte. Es gab auch Tage wo es anstrengender war, und natürlich gab es auch Auseinandersetzungen, aber immer zivilisiert, sachlich und respektvoll.
Bei welchen Fragen oder Problemen oder Politikfeldern kam es zu Diskussionen mit unterschiedlichen Meinungen an Ihrem Tisch ?
Lisa Speichert: Ich kann mich erinnern, dass es beim Thema Digitalisierung Meinungsverschiedenheiten gab aufgrund der Altersunterschiede.
Christian Birkner: Am letzten Tag gab es das Beispiel dass man der Regierung untersagen sollte so einen Bürgerrat zu initiieren. Dass man also sagt das darf nur von den Bürgern initiiert werden und die Regierung habe sich da rauszuhalten. Diese Meinung teile ich nicht. Man sollte es nicht einseitig verbieten. Man sollte auf keinen Fall die Bürger ausschließen aber auch nicht verhindern dass sie die Regierung die Bürger ins Boot holt.
Wenn so ein Bürgerrat eine dauerhafte Instanz wäre in der politischen Infrastruktur und man sie fragen würde, ob sie weiterhin dabei sein möchten, wäre das eine Option für Sie ?
Christian Birkner: Ich hoffe, dass ich nicht gefragt werde. Zumindest haben wir das so diskutiert dass man jedes mal neue Bürger fragt. Dass man nicht Bürgerratsroutiniers nimmt, weil das dann ja wieder anfällig wäre für Lobbyyismus. Ich würde das natürlich machen wenn ich zufällig wieder ausgelost werden würde, aber ich hoffe, dass es nicht so ist – aus dem eben skizziertem Grund.
Lisa Speichert: Wenn ich wieder eine Zufallsperson bin dann Ja!
Welches politische Thema brennt ihnen persönlich auf dem Herzen, so dass Sie es in einen Bürgerrat einbringen würden?
Lisa Speichert: Bildung, Klimathemen, Lobbyismus und soziale Ungleichheiten.
Christian Birkner: Ich habe ein globales Beispiel. Wenn man vom Klimawandel redet, ist glaube ich spürbar, dass die Maßnahmen bisher nicht weit genug gehen. Es gibt große Protestaktionen
und offensichtlich ist es so dass es nicht in dem Umfang gehört wird wie es sein sollte. Wenn man Bürgerentscheide oder so einen Bürgerrat festschreiben würde im Gesetz, dann müssten nicht Millionen Menschen auf der Straße mobilisert werden, denn die Regierungen würden schneller handeln.
Interviews: Jörg Wunderlich