Extrateil: Eine subjektive Reflexion zur gesellschaftspolitischen Situation
Es empfiehlt sich die Erfahrungen aus Teil 1 vorher zu lesen, um deren Kontext dann konkret als Basis für die folgenden Informationen und Einschätzungen besser einordnen zu können.
Anfang August bescherte mir und meinen „Austausch-Russen“ der Zufall eine Demonstration mit rund 150 Leuten vor dem Brandenburger Tor. Thema: Eine freie und unabhängige Ukraine. Mit neuen Bannern und vielen blau-gelben Flaggen stieß der Tenor stark gegen den dort wahrgenommen Hauptaggressor: Putin und dessen Russland.
Ich konnte nicht anders als mich zu Wort zu melden. Ich meinte damals, dass es vielleicht ein wenig hochgestochen war, Russland als Hauptverantwortlichen für den Krieg dort zu sehen. Außerdem riet ich sich doch mit den Montagsmahnwachen, welche ja für Frieden zu sein scheinen, zu solidarisieren. Eine kritische Sicht gegenüber Russland konnte dabei ja nicht schaden, nur bereichern, dachte ich. Diese Idee wurde prompt zurückgewiesen, und die Mahnwachen als Kreml-Propaganda bezeichnet. Das ließ ich erst einmal so stehen. Ich versprach den dortigen Teilnehmenden mir Russland hinsichtlich seiner „unangenehmen Seiten“ eines Blickes zu würdigen. In diesem Zusammenhang versprach mir ein Teilnehmer wäre man blitzschnell für zwei Wochen im Gefängnis, wenn man es wagen sollte ein leeres A4-Blatt auf dem roten Platz empor zu halten. Mal sehen!
Es stimmte, dass die russische Polizei generell strenger zu sein schien. Allerdings auch aus Eigenmotivation, denn die Strafen sind saftig. Noch am ersten Abend in Ufa, unsere Pässe waren nicht am Mann, sagte man uns, wir sollen uns ruhig und unauffällig in der Nähe der Polizei verhalten, da wir sonst leichte Beute wären. Die Beamtenpräsenz war in allen Städten, die ich besuchte, höher als in Deutschland. In U-Bahn und bei vielen Parks gab es so immer ein Wachhäuschen. Diese Differenz zwischen den Ländern sollte m.E. auch stets vor der Haushaltslage hierzulande und der tschetschenischen Terrorgefahr dortzulande, die bekanntlich mehrmals zu Tage trat, betrachtet werden! Und an einer stark befahrenen Straße Leute auf Alkohol rauszufischen (wie in Ufa gesehen) ist mit dem Blitzeraufkommen hier durchaus legitim vergleichbar.
Was war denn nun schlecht in Russland? Was ich oft hörte war: „Korruptia“ Da ich mich mit jungen Leuten umgab, wurde mir eindeutig mulmig, als mir erzählt wurde, dass gerade im Bildungssystem Geschenke und Zahlungen gegen gute Noten leider normal sind. In diesem Punkt schätze ich Deutschland besser ein. Jedoch scheint es seitens der politischen Ämter ein Wunsch nach Korruptionsabbau zu geben (siehe Bild).
Ansonsten war es schwer über Politik zu reden. Insbesondere im ersten Monat (August), wo die Harmonie des Austausches im Vordergrund lag, wollten unsere Gastgeber lieber seltener darüber reden. Das bis heute dominante Thema „Ukraine“ hing unseren Freunden aus dem Halse heraus. Jeden Tag gab es dazu detaillierte Berichte. Meinen Eindruck über das (verhalten warhgenomme) Verhalten der Deutschen gegenüber dem Krieg in der Ukraine und den Russlandbeschuldigungen, wurde mit einer Reaktion aus Russland begegnet, welche mich dann doch nachdenklich machte:
Enttäuschung.
Später in einem Bus zwischen Rostow und Tatanrog meinte eine Mitfahrerin, welche einst in Leipzig lebte, die Situation sei ein Albtraum. Ein Albtraum nicht nur für die Ukraine, sondern weil Frankreich und Deutschland ‚unter‘ amerikanischen Willen agieren (müssen) (sie sagte nicht ‚neben‘ oder ‚mit‘, sie sagte eindeutig ‚unter‘). Diese Enttäuschung kommt, so glaube ich, daher, dass der „Osten“ den „Westen“ schon immer attraktiv fand. Sie, und ich sah es, fahren deutsche Autos, kaufen in deutschen Fachhandelketten und leben konsumptionell den gleichen Traum: Tablets, schwedische Möbel und englisch-sprachige Musik. Sie mögen unsere Produkte, mit denen wir unsere Modernität ausdrücken. Die Sanktionen sind allein schon aus diesem Grunde eine Dummheit. Und dieses Wort benutze ich an dieser Stelle erst nachdem eine russische Selbständige mir dies so sagte - noch bevor ich wusste, dass der amerikanische Vizepräsident deutlich verlautbarte, dass die Sanktionen den EU-Ländern wirtschaftlichen Schaden zufügen werden. Die Umorientierung nach China hat daher auch längst begonnen. Viele Indikatoren lassen sich schnell in der Presse finden. Eine russische Austauschteilnehmerin ist jetzt in China und lernt dort chinesisch – nicht deutsch!
Ob die Sanktionen Russland dennoch schaden werden, und wenn ja wem dann dort am Meisten, kann ich nicht beantworten. Ich weiß nur aus dem Gespräch eines Hotelbesitzers von der Krim, dass nach dem Anschluss der Halbinsel dort die Grundstückspreise stiegen. Wenn die Preise, also der Indikator dafür, wie wertvoll eine Sache scheint, anheben, bedeutet dass bzw. kann es bedeuten, dass das Land dort mehr Ertrag bringt – im Sinne zahlungskräftigerer Besitzer – und im Sinne von mehr Sicherheit für diese Besitzer. Lieber Leser machen Sie sich an dieser Stelle gerne eigene, weitere Gedanken darüber, warum also eine höhere Nachfrage dort erwartet wird!
Zur Ukraine:
In Ufa verpasste ich das Gespräch mit Flüchtlingen. Im September unterhielt ich mich dann mit dem Sohn (heute um die 70 Jahre alt) eines Weltkriegs-Bandera-Faschisten, welcher die Meinung seines Vaters übernommen hatte, und im Kommunismus das absolute Übel sah. Ich solle so etwas aber in russischer Öffentlichkeit bloß nicht sagen, beteuerte er mir. Die Ukraine ist also doch zweigeteilt, dachte ich mir, oder? In Rostow war die Truppenbewegung Anfang September dann auch sichtbar. Olivgrüne Laster hupten uns entgegen. Und zwei Kampfhubschrauber flogen über uns hinweg. Der Krieg schien nah.*
Und er kam noch näher als ich eine Studentin dazu interviewte:
Sie kam aus Donezk, dort wo in diesem Augenblick Bomben fallen. Das Interview war sehr bedrückend und musste nach einer Stunde beendet werden. Sie erzählte mir von kaukasischen Menschen die sich vorher umtrieben; Davon, wie es hieß, es seien russische Truppen, die ihre Häuser beschossen, was sich jedoch als falsch herausstellte. Wer die Granaten abschoss, konnte sie nicht sagen, niemand wusste es dort genau. Es herrscht Chaos. Sie erzählte von den Maidan-Demonstrantionen, die ihr und ihrer Familie erst Hoffnung gaben, welche enttäuscht wurden, da jetzt alles schlimmer ist als vorher, sodass sie sich die Verhältnisse der Janokowitschs-Zeiten zurückwünschten. Drei ihrer fünf Abiturklausuren wurden ohne Prüfung benotet, da die Schule ausfiel. In der Ukraine beschützte sie bei Autofahrten ihre kleine Schwester, da die bewaffneten Wachposten sich vor Brutalität in Gegenwart vor Kindern hüteten. Sie bestätigte mir die historische Ost-West-Differenz des Landes. Allerdings in dem sie dies positiv betonte, dass halt der Westen kulturell und der Osten wirtschaftlich das Land bereichern, sich beide Landesteile also ergänzen. Nun muss sie statt in Kiew zu studieren in Donetzk leben, wofür sie, so schien es, Russland dankbar sein wird. Am Verstörendsten empfand ich die Tatsache, als sie davon berichtete, dass ihr Nachbar samt Haus von einer Bombe getroffen und getötet wurde. Immer wenn ich mich über Krieg unterhielt, dann mit Älteren, meist mit Großeltern oder vermittelt über Weltkriegs-Dokus. Doch diesmal saß ein junges Mädchen, gerade erst Erwachsen geworden, neben mir und erzählte wie sie und ihre Eltern den Bomben entkommen, wie sie Krieg erleben.
Was sie will ist Frieden. Genauso, wie der ehemalige Sowjetsoldat, einst in Zerbst stationiert, der mit Tränen in den Augen sich freute Deutsche wiederzusehen. Seine Frau sagte: Frieden zwischen den Völkern ist das Wichtigste!
Dass dies möglich ist, hat mir diese Reise gezeigt. Sie zeigte mir mit welcher Wärme turkstämmige Tataren und Baschkiren sich als Russen wohlfühlten (siehe Teil 1). In Rostow begegneten mir im Studentenwohnheim andere Nationalitäten. Überraschend und begeisternd brannten sich die Erinnerungen von einem Amerikaner, der sich überschwänglich in Russland verliebte, in meinen Kopf. Dass es sowas gibt, hätte ich vorher nicht vermutet. Er sagte, wenn wir, wenn unsere Generation an der Reihe ist die Geschicke der Welt zu beeinflussen, wird es Frieden geben, weil wir uns schon viel eher und viel freundschaftlicher vernetzt haben. Möge er Recht haben! Möge dieses Netz halten!
PS: Ach und festgenommen wurde ich wegen hochgehaltener Blätter nicht. Die Grenzposten am Kreml würdigten mich kaum eines Blickes und eine Polizeistreife fuhr in gleichbleibender Geschwindigkeit gemütlich an mir vorbei. Alles halb so wild.
Matthias Woelki/ Text & Fotos
* Mittlerweile wurden laut russischem Präsidenten die dortigen Truppen zurückgezogen.