Vor 15 Jahren stimmten die Tschechen mehrheitlich für den Beitritt zur Europäischen Union. Im Jahr 2018 - mit stark prosperierender Wirtschaft und der niedrigsten Arbeitslosenquote in Europa - fordern nicht nur die erstarkten Rechtspopulitsten unter Babis ein Referendum über einen EU-Austritt nach britischem Vorbild. Woher kommt die Europaskepsis unserer Nachbarn?
Tschechien geht es gut. Von ähnlichen Wachstumsraten – rund vier Prozent – kann die deutsche Volkswirtschaft nur träumen. Die Arbeitslosenrate ist die niedrigste in der EU. Der Beitritt zur europäischen Staatengemeinschaft 2004 war ein Gesundbrunnen für das Land im Transformationsprozess vom Realsozialismus zu einer freiheitlichen Demokratie und Ökonomie. Drei Viertel der tschechischen Exporte gehen in die EU. Volkswagen ist neidisch auf die überaus erfolgreiche tschechische Konzerntochter Škoda, hinter vorgehaltener Hand wird über Pläne gemunkelt, Teile der Produktion nach Deutschland zu verlegen, um ein größeres Stück vom tschechischen Kuchen abzubekommen. Die Ende Oktober abgewählte Regierung war auf einem guten Weg, das angestrebte Ziel zu erreichen, sich innerhalb der EU Kerneuropa – Deutschland, Frankreich, den Beneluxstaaten – anzunähern, den Euro einzuführen, in der Union eine gewichtige Stimme zu erhalten.
Bei den Wahlen im Oktober erreichte die Partei ANO (die Abkürzung für „Aktion unzufriedener Bürger“) mit fast 30 % einen überwältigenden Wahlsieg. Parteichef Andrej Babiš versprach seinen Wählern drei Tage vor der Wahl schriftlich unter anderem, den Euro nicht einzuführen, keinerlei weitere Kompetenzen an die EU abzugeben und der EU-Migrationspolitik die Stirn zu bieten. Alle anderen Parteien – insgesamt übersprangen neun die 5-Prozent-Hürde – erreichten nur zwischen 5 und 11 Prozent. Unter ihnen mit gut 10 % die „tschechische AfD“ namens SPD („Partei für die direkte Demokratie“), die im Wahlkampf auf fremdenfeindliche Parolen setzte und ihren Wählern ein Referendum über den EU-Austritt („Czexit“) versprach – den sie ausdrücklich befürwortet. Nach jüngsten Umfragen sehen nur noch knapp 30 % der Tschechen die EU-Mitgliedschaft positiv.
Blick auf die Mittelschicht
Wie ist diese erstaunliche Diskrepanz zwischen der doch objektiv komfortablen Lage und der Unzufriedenheit und EU-Skepsis der Bürger zu erklären? Einen Versuch dazu unternahm in einem Gespräch mit dem Nachrichtenserver seznam.cz am 30. Oktober der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Jan Švejnar. Er lehrt in den USA an der University of Michigan und wird immer wieder als aussichtsreicher tschechischer Präsidentschaftskandidat gehandelt, weigert sich aber, nachdem er 2008 Václav Klaus unterlegen ist, seinen Hut erneut in den Ring zu werfen. Švejnar sieht Parallelen zum Trump-Erfolg. Die Einkommen der Mittelschicht in den USA stagnierten seit Jahrzehnten. Das sei zwar in Tschechien ganz anders, heute gehe es der tschechischen Mittelschicht wesentlich besser als ihrer Elterngeneration und auch besser als ihren Pendants unter den ehemaligen realsozialistischen Leidensgenossen in Ungarn, Polen, Bulgarien oder Rumänien. Aber infolge von Reisefreiheit und Internet vergleiche man sich nicht mehr mit ihnen, sondern mit den Nachbarn Österreich und Deutschland und stelle fest, dass 30 Jahre nach der Samtenen Revolution das Durchschnittseinkommen im Vergleich zu diesen Nachbarn nur bei einem Viertel bis einem Drittel liege.
„Nie wieder München“
Ein anderer Erklärungsversuch für das Missverhältnis zwischen der objektiv positiven Lage und der „blba nalada“ („miese Stimmung“, so hat Tschechiens Präsident Václav Havel dieses Phänomen bezeichnet) setzt tiefer an – in der tschechischen Geschichte. „Nie wieder München“ steht auf einem Gedenkstein unweit der Großstadt Brno (Brünn) im Süden Tschechiens.
Drei historische Ereignisse von tiefgreifender Bedeutung für die tschechische Volksseele jähren sich in diesem Jahr: 1918 gewann die Tschechoslowakei nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie ihre Staatlichkeit. Das Jahr 1938 hat sich traumatisch ins Gedächtnis der tschechischen Nation eingebrannt. Am 29. September 1938 wurde in München ein Abkommen zwischen Frankreich, England, Italien und Deutschland geschlossen. Beeindruckt und zugleich beängstigt von Hitlers wirtschaftlichen Erfolgen, die im Wesentlichen auf einer Ankurbelung der Rüstungsproduktion beruhten, beschlossen die führenden europäischen Nationen eine „Appeasement-Politik“. In der Hoffnung, Hitlers Appetit auf mehr zu stillen, sprach man ihm 1938 in München die so genannten sudetendeutschen (deutschsprachigen) Gebiete der Tschechoslowakei zu. Die Tschechoslowakei war an der Konferenz, in der über die Beschneidung ihres Staatsgebiets entschieden wurde, gar nicht beteiligt. Die Slowaken waren indes schon in eine andere Richtung unterwegs: Unter einem antisemitischen, faschistischen Regime lösten sie keine sechs Monate später, am 14. März 1939, den ungeliebten Bund mit den Tschechen auf, in dem sie sich immer als Nummer zwei fühlten, und erklärten ihre Selbständigkeit. Ihre antisemitischen Rassengesetze hat Josef Goebbels bald danach als noch effizienter als die deutschen bezeichnet. Einen Tag später besetzte die deutsche Wehrmacht das von Nazideutschland als „Rest-Tschechei“ bezeichnete verbliebene tschechische Staatsgebiet und benannte es um in „Protektorat Böhmen und Mähren“. Die Tschechen erwarteten Hilfe durch ein bestehendes Beistandsabkommen mit Frankreich, das ihre territoriale Integrität sichern sollte. Aber Frankreich zeigte die kalte Schulter und ließ sie im Stich.
„Versuch, in der Wahrheit zu leben“
1968 waren weltweit Studenten auf den Straßen, demonstrierten gegen Kriege und für Bürgerrechte. In der Tschechoslowakei blühte der „Prager Frühling“, die Menschen begeisterten sich für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ – diesmal auch die Slowaken, deren kommunistischer Parteichef Alexandr Dubcek der Bewegung das Gesicht verlieh. Am 21. August 1968 griffen die Warschauer-Pakt-Staaten ein und sowjetische Panzer walzten den „Prager Frühling“ nieder. Wenn dort ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz obsiegt hätte, wäre ihr Sozialismus ja als einer mit unmenschlichem Antlitz entlarvt worden. Viele Tschechoslowaken hofften auf ein Eingreifen der freien Welt. Sie wurden abermals enttäuscht.
1977 fanden tschechoslowakische Intellektuelle – unter ihnen der Schriftsteller und spätere Präsident Václav Havel – den Mut, gegen das bleierne Regime der „Normalisierung“ nach 1968 aufzustehen. Sie verfassten und unterzeichneten die „Charta 77“, die dazu aufrief, die verfassungsmäßig eigentlich garantierten Rechte zu achten und Meinungsfreiheit zu gewährleisten. Im Westen indes identifizierte man sich in weiten intellektuellen Kreisen mit linken Bewegungen, Che Guevara, die Sandinisten in Nicaragua waren Idole, in Deutschland sympathisierten nicht wenige mit den Zielen der Rote Armee Fraktion (RAF). Man träumte weiter von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, während die tschechischen Chartisten dies längst als Herrschaft der Ideologie entlarvt hatten – besonders brillant Václav Havel in seinem Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“. Die mutigen Unterzeichner der Charta 77 in der Tschechoslowakei passten in das Weltbild der westlichen Linksintellektuellen nicht hinein – entweder versuchte man, sie gegen ihren Willen für die eigenen Ideale zu vereinnahmen, oder man ignorierte sie. Viele von ihnen verbüßten lange Haftstrafen.
Langer Schatten von 2004
Ein dritter Grund für tschechische EU-Skepsis ist jüngerer Natur. Nach dem gleichzeitigen EU-Beitritt 2004 gab es Umfragen in Polen und in Tschechien zur Frage, ob man sich vorstellen könne, zeitweise oder dauerhaft in einem anderen EU-Staat zu arbeiten. In Tschechien antworteten 2 % mit „Ja“, in Polen 40 %. Ausgerechnet die Nachbarländer Deutschland und Österreich plädierten dennoch für eine volle Ausreizung der der 7-Jahresfrist, bevor die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, also das Recht, in jedem Staat der EU Arbeit zu suchen, hergestellt werden könne. Und sie setzten das durch. Es kann nicht überraschen, dass die Tschechen das als Herabsetzung, als Misstrauensbeweis empfinden mussten.
Die Skepsis der Tschechen, ihr Fremdeln mit der EU, ihr Wahlverhalten hat historische Wurzeln. Oft genug hat man sie im Stich gelassen oder missverstanden. Dies muss berücksichtigt werden, wenn dieses überaus sympathische und kreative Volk wieder Vertrauen in die westliche Staatengemeinschaft gewinnen und ganz in die EU integriert werden soll.
Der deutsche Historiker Werner Imhof war langjähriger Mitarbeiter der Brücke/Most-Stiftung und ist Tschechien-Korrespontent der Wochenzeitung „Jungle World“.