"Was ist für Dich gutes Leben?" Eigentlich wollte ich Anna von Gruenewaldt ausfragen, um ein Porträt über die junge Frau mit der optimistischen Ausstrahlung zu gestalten. Doch nun stellt sie mir diese Frage und ich werde stutzig.
Ein Weilchen muss ich innehalten und überlegen. Die Frage ist alles andere als abwegig, doch so konkret kam sie mir niemals in den Sinn. Wie wohl den meisten Menschen - und das ist es, worauf Anna Lust hat. Sie möchte nachfragen und zuhören, möchte Denkanstöße liefern und bekommen. Fragen stellen statt abgeklärte Antworten geben. Prozesse anstoßen. Die Frage nach dem Guten Leben ist dabei ein roter Faden, der sich durch viele der Projekte zieht, in denen Anna aktiv ist – Transition Town, Zukunftswerkstätten, entwicklungspolitische Bildung, eine Kommunikations-Übungs-Gruppe, gemeinschaftliches Wirtschaften, eine Kampagnenwerkstatt, selbstorganisierte Seminare und
andere.
"Buen Vivir" wird im Plural übersetzt
Ihr letztes großes Projekt war die Organisation des Symposiums „Nachhaltigkeit neu leben – Buen Vivir? Das Gute Leben in Forschung, Schule und Alltag“. Seit etwa zwei Jahren interessiert sie sich für dieses ursprünglich indigene Konzept aus dem Andenraum, das am besten übersetzt wird mit „Gutes Zusammenleben“ oder gar in der Mehrzahl „Gute Zusammenleben“. Ganz unterschiedliche Interpretationen und Sichtweisen gibt es, allen gemeinsam ist die Kritik am derzeitigen Entwicklungsmodell und ein ganzheitliches Verständnis der Beziehung zwischen Mensch und Natur, ein harmonisches Zusammenleben in Gemeinschaft, Einklang und Vielfalt.
Wie kam es zu diesem Symposium? Vor drei Jahren arbeitete Anna in Argentinien und kam dort in Kontakt mit verschiedenen Ansätzen solidarischen Wirtschaftens. Davon inspiriert beschäftigte sie sich nach ihrer Rückkehr weiter mit diesen und ähnlichen Themen. Sie erfuhr vom Buen Vivir, das seit 2008 und 2009 in den Verfassungen Ecuadors und Boliviens verankert ist. Fasziniert von der Ganzheitlichkeit des Konzepts und dem zumindest theoretischen Brechen mit gängigen Vorstellungen von Entwicklung, bewarb sie sich für ein Praktikum in Ecuador. Dort lernte sie ganz unterschiedliche Versuche kennen gutes Zusammenleben zu verwirklichen– politische, wirtschaftliche, ökologische, auch gemeinschaftliche und eher persönliche, spirituelle.
Von Argentinien nach Halle
Wieder in Halle zurück machte Anna sich selbstständig und initiierte verschiedene Projekte und Weiterbildungen. Zum Beispiel organisierte sie die Heldentage mit. Während dieses Festivals zu solidarischen Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens traf sie Martin Lindner, Professor für Bio-und Geodidaktik der Uni Halle. Beide verband ihr Interesse für Ecuador und das Buen Vivir. Sie gründeten eine Arbeitsgruppe, in der dann bald die Idee zu einem Symposium entstand.
Gutes Zusammenleben ist für Anna auf ganz unterschiedlichen Ebenen wichtig. Unter anderem bedeutes es für sie „Teil eines Ganzen“ zu sein, mit allem was ist verbunden in dem Bewusstsein, dass das, was sie tut, auf dieses Ganze zurückwirkt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Kommunikation. Die Frage, wie durch diese ein gutes Zusammenleben gelingen kann, war einer der Gründe, der sie bewogen hatte, vor acht Jahren das Studium der Sprechwissenschaft in Halle zu beginnen. Sie möchte Räume schaffen für ein gutes Miteinander. Räume des Austauschs, der Wertschätzung und des Wohlfühlens. Wer die junge Frau einmal als Moderatorin erlebt hat, weiß, auf welche Weise sie eine solch angenehme Atmosphäre verbreitet. Ihre Zugewandtheit, Offenheit und Herzlichkeit lassen ein Verbundenheitsgefühl entstehen, das ein gemeinsames Wirken zum Ergebnis haben kann.
Die Vision ist entscheidend
Methoden bzw. Haltungen wie Gewaltfreie Kommunikation und Dialog haben sie geprägt, außerdem die Beschäftigung mit partizipativen Gruppenprozessen, dass gemeinsame Entstehenlassen von Wirklichkeit und Gestalten des Umfelds. Eine wichtige Rolle spielt für Anna der Glaube an Visionen. Ideen und Geschichten von einer gerechten und solidarischen Welt, von einem gemeinsamen Wandel, der sowohl bestehende Strukturen als auch jede und jeden Einzelnen umfasst.
All das sollte auch Teil des Symposiums sein. Das Symposium als ein Raum des Austauschs, das Buen Vivir als Inspiration, nicht als einzige Wahrheit oder zu kopierendes Idealbild. Das Buen Vivir sollte entdeckt und in Verbindung gebracht werden mit Ansätzen, die auch hier gelebt werden. Ein besonderer Fokus lag dabei auf Bildung – in Uni, Schule, politischer Bildung und auch außerhalb von Institutionen. Dieses Konzept ging auf und es entstand ein vielfältiges Programm aus über 40 Workshops, Vorträgen, Installationen, Exkursion, Theater, Film, Gesprächen und offenem Raum, umrahmt von gemeinsamem Essen, Musik und einem Fest. Ganz unterschiedliche Sichtweisen und Formate kamen hier zusammen – und über 200 Teilnehmende. Die Themen reichten von der Dekolonialisierung von Wissenschaft, über Commoning und andine Philosophie zu Tiefenökologie und Berichten über die politische Umsetzung des Konzepts in Ecuador.
Nachklingen, Nachlesen und Nachsehen
Viele Menschen haben mitgeholfen, das Symposium zu dem zu machen, was es war. So ist eine Atmosphäre entstanden, die sehr wertschätzend und offen war, ein lebendiger Austausch, der zu vielen neuen Begegnungen, teilweise Projekten und auch Freundschaften führte. Anna ist noch immer froh über die vielen positiven Rückmeldungen und all das was in diesen Tagen passiert ist. Jetzt steckt sie schon in anderen Vorhaben und freut sich auf Tage zum nachklingen, zum nachlesen und nachsehen, was alles war. Und zum Überlegen, was als nächstes kommt. Anna hat Lust auf Halle, auf Ecuador. Sie hat Lust, immer wieder Neues anzustoßen. Wer weiß, vielleicht gibt es ein weiteres Symposium nächstes Jahr. Oder etwas ganz anderes. „Lasst uns Imago-Zellen sein“ sagte Geseko von Lüpke im Abschlussvortrag und machte Mut, selbst die Veränderung zu sein, die wir sehen wollen. Was genau das bedeutet, kann in den Viedeoaufzeichnungen vom Symposium nachgeschaut werden: www.buenvivir-in-halle.de
Nora Key
Foto: Streifinger