Ana­ly­se und Kri­tik einer mora­li­sie­ren­den Kommunikation

Bernd Ste­ge­mann war schon vor sei­ner Zeit in der Samm­lungs­be­we­gung „Auf­ste­hen“ im sozi­al­po­li­ti­schen Flü­gel der Lin­ken aktiv und hat­te dabei sei­ne Pro­ble­me mit der poli­ti­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on im lin­ken Milieu. Zu eng waren die Kor­ri­do­re des Sag­ba­ren, zu schnell der erho­be­ne Zei­ge­fin­ger der Mora­li­sie­rer, zu ver­brei­tet die Bereit­schaft, als Juni­or­part­ner neo­li­be­ra­ler Poli­tik zu agieren.

Aber Ste­ge­mann ist auch Thea­ter­mann und als sol­cher Geschich­ten­er­zäh­ler. Des­halb beginnt sein Buch "Die Moral­fal­le - Für eine Befrei­ung lin­ker Poli­tik" auch mit dem Mär­chen vom Hasen und dem Igel: Indem eine Sei­te ihre Posi­ti­on ver­dop­pelt, kann die ande­re den Wett­lauf nicht mehr gewin­nen. Erklärt wird so die schon in der Anti­ke belieb­te Denk­be­we­gung der Paradoxie.

Para­do­xien allerorten

"Das Pro­blem besteht heu­te dar­in, dass sich sowohl Rechts als auch Links ver­dop­pelt haben. Es gibt das Rechts des Res­sen­ti­ments und Natio­na­lis­mus und es gibt das Rechts des Neo­li­be­ra­lis­mus, das sich mit allen Atti­tü­den der Welt­of­fen­heit und Diver­si­tät schmückt. Es gibt das Links der sozia­len Fra­ge und es gibt das Links der Iden­ti­täts­po­li­tik, das sich vor allem mit den Fra­gen der Aner­ken­nung und Diver­si­tät ver­bin­det. Die kom­pli­zier­ten Ver­bin­dun­gen, die Rechts und Links in Gestalt von neo­li­be­ra­ler Poli­tik und Iden­ti­täts­po­li­tik ein­ge­hen, füh­ren im poli­ti­schen Feld zu größ­ten Ori­en­tie­rungs­pro­ble­men." (Bernd Stegemann)

Am offen­sicht­lichs­ten ist die­se Aus­ein­an­der­set­zung in der Migra­ti­ons­pro­ble­ma­tik, doch schwe­rer wie­gen die Para­do­xien, die den Arbeits­all­tag jedes Men­schen bestim­men: "Sei ganz du selbst, aber sei genau so wie es der Arbeits­markt von dir ver­langt!" Ato­mi­sier­te Ein­zel­ne quä­len sich mit ihrer Selb­st­op­ti­mie­rung ab, ein immer löch­ri­ger wer­den­des sozia­les Netz ent­lässt sie schon nach 12 Mona­ten Arbeits­lo­sig­keit in die stig­ma­ti­sie­ren­de Armut der Hartz-IV-Empfänger.

Im Zen­trum bun­des­deut­scher Para­do­xien befin­det sich zwei­fel­los das soge­nann­te "Deutsch­land-Para­dox": Deutsch­land ist eine Nati­on, die kei­ne Nati­on sein will. Die Bewohner*Innen des Sied­lungs­ge­biets geben sich kol­lek­tiv den Auf­trag, kein Kol­lek­tiv mehr zu sein.

"Aktu­ell fehlt eine lin­ke Erzäh­lung, die die sozia­le Fra­ge ins Zen­trum stellt. Die Ableh­nung der Klas­sen­fra­ge kommt dabei inzwi­schen auch aus dem lin­ken Milieu. Von der iden­ti­täts­po­li­ti­schen Sei­te wird gesagt, dass die bei­den Merk­ma­le "Gen­der" und "Race" zen­tral wären für alle For­men von eman­zi­pa­to­ri­scher Poli­tik. Der drit­te Aspekt, die "Klas­se", sei zu ver­nach­läs­si­gen, da sich dahin­ter in Wirk­lich­keit nur die Domi­nanz des wei­ßen, hete­ro­se­xu­el­len, patri­ar­cha­li­schen Arbei­ters ver­ber­ge. Das heißt, die Klas­sen­fra­ge wird auch zu einer iden­ti­täts­po­li­ti­schen Fra­ge gemacht." (Bernd Stegemann)

Bewah­rung von soli­da­ri­schen Strukturen

Kri­ti­ker wen­den ein, dass Ste­ge­manns Buch eigent­lich eher "Die Fal­le der mora­li­sie­ren­den Kom­mu­ni­ka­ti­on" hei­ßen müss­te, denn mora­lisch steht Ste­ge­mann treu zur inter­na­tio­na­len Soli­da­ri­tät, zu den Wer­ten der Auf­klä­rung und der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on, dem sozia­len Gedan­ken im Sin­ne einer klas­si­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie. Zuwan­de­rer müs­sen selbst­ver­ständ­lich inte­griert wer­den, damit es nicht zu dau­er­haf­ten Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten kommt.

"Es kann nicht sein, dass die­se Wer­te rela­ti­viert wer­den, egal von wel­cher Sei­te, indem man zum Bei­spiel sagt, die Scha­ria ist auch eine Gesetz­ge­bung mit jahr­hun­der­te­lan­ger Tra­di­ti­on, die Gül­tig­keit bean­spru­chen darf." (Bernd Stegemann)

Wer so etwas kri­ti­siert, bekommt sofort den Mora­lis­mus der Gesin­nungs­ethi­ker um die Ohren gehau­en. Dabei ist der Wider­spruch zwi­schen Gesin­nungs- und Ver­ant­wor­tungs­ethi­kern seit Max Weber ein gut beschrie­be­nes Phä­no­men. Arnold Geh­lens Buch "Moral und Hyper­mo­ral" von 1969 ziel­te auch in die­se Rich­tung. Die gras­sie­ren­de Post­mo­der­ne ver­ein­fach­te die­sen Mecha­nis­mus des Mora­li­sie­rens wei­ter nach dem Mot­to: "Wahr ist, was sich gut anfühlt." Und mora­li­sie­ren­des Spre­chen ziel­te schon damals stark auf Ver­ur­tei­lung und Bestrafung:

"Prak­tisch gehen Mora­lis­ten davon aus, dass sie es mit Geg­nern zu tun haben, die nicht über­zeugt wer­den kön­nen." (Niklas Luhmann)

Gro­ßen Raum in Ste­ge­manns Buch nimmt das "Thea­ter der öffent­li­chen Stim­men" ein, spe­zi­ell das der Talk­shows im Fern­se­hen. Er ver­gleicht den insze­nier­ten Streit der Shows mit einer fünf­ak­ti­gen anti­ken Tra­gö­die, von der immer nur der drit­te Akt gespielt wird: Die Fron­ten zwi­schen Mora­lis­ten und Rea­lis­ten sind schon ver­här­tet, die ers­ten Ent­schei­dun­gen sind getrof­fen, aber noch reden Anti­go­ne und Kre­on mit­ein­an­der. Am Ende der Sen­dung sind die Sub­al­ter­nen ver­stummt, die Para­do­xien unse­rer Zeit wer­den von Anne Will-Fäh­rig & Co. zu einem unend­li­chen Flim­mern verrührt.

Ste­ge­mann ist hier ganz Rea­list, sein Kre­on will die Wider­sprü­che auf­drö­seln und wei­ter ent­wi­ckeln zur Befrei­ung - mög­lichst nicht zur Kata­stro­phe. Was in der Talk­show nicht gelin­gen kann, ver­sucht das Buch. Mit beträcht­li­chem Ana­ly­se­auf­wand will es das Bewusst­sein der Betei­lig­ten schär­fen, hin zu einer neu­en Auf­klä­rung: dem Aus­gang aus der selbst ver­schul­de­ten Unmün­dig­keit einer Wurm­fort­satz-Lin­ken, die nur rech­ten Pro­vo­ka­teu­ren in die Hän­de spielt:

"Die Pro­vo­ka­ti­on von Rechts funk­tio­niert hier wie ein Spreng­kör­per, der in die Fur­che der Igel gewor­fen wird. Durch den Knall wer­den bei­de Igel auf­ge­schreckt, sodass sie gleich­zei­tig ihre Köp­fe her­vor­re­cken. Damit sind sie auf­ge­flo­gen und ihre Para­do­xie wird als das erkenn­bar, was sie schon immer war: eine Dop­pel­mo­ral." (Bernd Stegemann)

Das Buch "Die Moral­fal­le" von Bernd Ste­ge­mann ist im Ver­lag Mat­thes & Seitz erschie­nen, es hat 206 Sei­ten und kos­tet 18,-€, als Ebook 14,-€.

Bernd Ste­ge­mann: Der Klas­sen­be­griff ist plan­mä­ßig zer­stört worden

Foto von Pixabay: Decay in a gra­vel garden

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