Das englische Verb move heißt bewegen oder auch umziehen, sich verändern. Utopia ist das Zukunftsland, das es in Wirklichkeit gar nicht geben wird. Aber ohne Ideen von einer guten Zukunft gibt es keine Bewegung. Das beweist gerade die „große“ Politik. Vom 10. bis 14. Juli 2019 wird zum zweiten Mal das Festival MOVE Utopia stattfinden. „Wir feiern das Experiment der gelebten Utopie“, heißt es auf der Homepage.
Die Buchstaben von MOVE stehen für Miteinander, Offen, Vertrauensvoll, Emanzipatorisch. Das Motto, das die verschiedenen Initiativen, Gruppen und Einzelmenschen vereint, die sich diesmal in der Freien Feldlage Harzgerode treffen, klingt utopisch, aber nicht unbekannt: „Für eine Welt nach Bedürfnissen und Fähigkeiten“. Dabei entwickeln Menschen neue Formen des Zusammenlebens, indem Bedürfnisse und Talente offen geteilt und mitgeteilt werden. Oberstes Prinzip, und das klingt neu für diejenigen, die mit Marx vertraut sind: Individualität ist die Grundlage des Miteinanders!
Solidarisch, nachhaltig, herrschaftsfrei
Die Akteure und Interessierten, die sich 2017 auf dem Gelände des Fusion-Festivals in Müritz erstmals getroffen haben, setzen sich für ein solidarisches, nachhaltiges, herrschafts- und hierarchiefreies Miteinander ein. Sie gehen davon aus, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem, das unsere Welt noch beherrscht, an sein Ende gekommen ist und sagen: „Lieber das System ändern als das Klima“. Kürzlich trafen sich die Organisatorinnen zur Vorbereitungswoche in der Alten Heilstätte Harzgerode. Die neuen Besitzer des Anwesens haben die Genossenschaft in der Heilstätte gegründet und sind kräftig dabei, hier einen Lern- und Lebensort für gelebte Utopien zu gestalten, der durch das Festival weithin bekannt gemacht werden soll.
Nicht zuletzt durch das große Interesse an den Fridays for Future werden junge Menschen zunehmend politisiert. Sie beginnen Fragen zu stellen und erkennen, dass die Menschheit dem Wachstumsparadigma entsagen muss, um eine gute Zukunft gestalten zu können. Verweigerung ist dabei ein Prinzip, das jede/r Einzelne leben kann. Es beginnt mit Schulstreik und endet womöglich in der Ablehnung von Lohnarbeit, so wie sie Tobi Rosswog in seinem Buch „After Work“ beschreibt. Er wird auch in Harzgerode dabei sein.
Die jungen Menschen aus dem Vorbereitungskreis und von der Gemeinschaft in der Heilstätte, mit denen ich einen organisatorischen Rundgang über den Platz machen durfte, gehen zumeist schon seit einigen Jahren andere Wege. Sie studieren bewusst nicht an einer Universität, sondern begeben sich gemeinschaftlich auf Praxis-Bildungsreise als Wander- oder Reise-Uni oder Zugehörige/r von Unity, einem losen Netzwerk von Menschen, die ohne Geld leben. Sie gehen zu Fuß, fahren per Anhalter oder radeln. Kost, Logis und sinnstiftende Arbeit sowie jede Menge neues Wissen finden sie bei den jeweiligen Gruppen und Gemeinschaften, die sie besuchen.
Praktische Ansätze zum Handeln
Meine Geprächspartnerin Luisa ist für die Pressearbeit des MOVE verantwortlich und lebt in der Stadtkommune Villa Locomuna in Kassel. Auch sie ist viel unterwegs, denn sie will Räume öffnen für den Austausch über alternative Wirtschaftssysteme. Die junge Kunststudentin stammt aus einem völlig normalen gut bürgerlichen Elternhaus. „Meine Eltern verstehen nicht so richtig, was ich mache, aber sie sind neugierig.“ Luisa sagt, dass ihr zeitaufwendiges politisches Engagement und ihr Studium im Augenblick noch ganz gut miteinander zu vereinbaren sind. Ein junger Mensch kann Experimente wagen. Sie war wie ca. 1000 andere Leute begeistert vom ersten MOVE und will daran mitwirken ein Netzwerk aufzubauen, das auch zwischen den Festivals funktioniert. „Viele Jugendliche sind durch das MOVE politisiert worden und haben Lust bekommen richtig loszulegen“, sagt sie. „Das MOVE zeigt, was man tun kann, um nachhaltige Strukturen zu schaffen. Es hat das Potenzial, Menschen Möglichkeiten für ein anderes gutes Leben aufzuzeigen und es bietet praktische Ansätze zum Handeln.“ Kurzum, MOVE Utopia ist ein schöner Einstieg, um Alternativen zum überlebten kapitalistischen System kennenzulernen.
Tauschlogik loslassen
Menschen aus der Gemeinschaftsszene, aus Degrowth-, Commons- und Transition-Bewegung stellen in Seminaren und Workshops ihre unterschiedlichen Ansätze dar. Es wird um Solidarisches Wirtschaften und Genossenschaften gehen. Das zentrale Thema, zu dem es eine große Podiumsdiskussion geben soll, ist die Tauschlogik. Dazu werden verschiedene Bewegungen und Akteure ihre Ideen vorstellen. Letztendlich geht es darum, wie eine künftige Gesellschaft tauschlogikfrei funktionieren kann.
Seit Jahrhunderten basiert unser Zusammenleben auf dem Prinzip: „Gibst du mir, so geb’ ich dir.“ Was geschieht, wenn jemand nicht (mehr) gibt, nicht geben kann? Oder anders herum. Was geschieht, wenn jemand mehr gibt, mehr geben kann? Wenn man solche Fragen stellt, landet man schnell bei den Care-Tätigkeiten, also Arbeiten, die sich auf die Sorge für und das Kümmern um andere Menschen beziehen. Arbeiten, die immer noch zumeist von Frauen und zumeist unendgeldlich geleistet werden. Arbeiten, die, wenn sie denn bezahlt werden, schlecht entlohnt sind. Gerade diese Tätigkeiten können in der Zukunft nicht gut von Maschinen übernommen werden.
Menschliche Zuwendung, liebevolles Miteinander, Geduld, Akzeptanz des Anderen sind notwendig für ein gutes Leben und müssen gesellschaftliche Wertschätzung erfahren.
Das MOVE Utopia ist ein Testgelände für eine solidarische Gesellschaft. Deshalb gilt Tauschlogikfreiheit. Das heißt, jede/r zahlt, was sie/er kann oder gibt Hilfe in Form von Arbeitskraft bei den im Vorfeld stattfindenden Bauwochen oder während des Festivals selbst. Es gibt jedoch keinen Zwang, irgendetwas zu zahlen oder zu tun. Der Eintritt, Unterkunft im Zelt und Versorgung basieren komplett auf Freiwilligkeit.
Freiheit statt Konsumstimmung
Das MOVE ist keines der herkömmlichen Konsum-Festivals. Daher ist das Gelände drogenfrei. Luisa dazu: „Wir wollen uns auf bewusste Weise begegnen und keine Konsumstimmung erzeugen. Die Leute können sich als Teil von MOVE fühlen.“ Die ausschließlich vegane Verpflegung besteht vorwiegend aus „geretteten“ Lebensmitteln, die von Firmen zur Verfügung gestellt werden. Natürlich geht auch bei MOVE Utopia nicht alles ohne Spenden und Förderungen. Die Aktiven aus der Vorbereitungsgruppe sind schon lange am Anträge schreiben.
Luisa wünscht sich, dass noch mehr Seminar- und Workshop-Angebote zusammenkommen. Insbesondere das Transition-Town-Umfeld, die Grundeinkommensszene und das Konzeptwerk Neue Ökonomie werden noch vermisst. Auch die ältere Generation ist bisher recht wenig vertreten. Kontakte können über die Homepage geknüpft werden. Dort kann mensch sich näher informieren, anmelden und den Newsletter beziehen.
Luisa will auch nach dem Festival ihre Kraft dafür einsetzen, dass das MOVE eine Infrastruktur bekommt, die längerfristig Sinn macht, sodass stärkere Vernetzung zwischen unterschiedlichen Akteuren und Initiativen stattfindet und sich immer mehr Menschen gemeinschaftlich in Richtung „gutes Leben“ bewegen.
Solveig Feldmeier
move-utopia.de
freiefeldlage.de
Drei Tipps für ein arbeitsfreieres Leben von Luisa aus „After Work“ von Tobi Rosswog.
- Reflektiere bei jedem Kauf, welches tiefere Bedürfnis jetzt dahintersteckt, und suche nach kreativen alternativen Strategien.
- Besuche eine Kommune, zum Beispiel im Rahmen unserer Interkommune-Seminare in Kassel.
- Gründe mit einer kleinen Gruppe (vielleicht auch nur für eine begrenzte Zeit) eine gemeinsame Alltagsökonomie, macht Euch gegenseitig transparent, wofür ihr Geld ausgebt, welche Bedürfnisse ihr habt und welche Fähigkeiten oder Ressourcen ihr zu geben habt.