Tschechien hat eine neue Regierung – und Havel fehlt mehr denn je
Am 20. und 21. Oktober 2017 fanden in Tschechien Wahlen zum Abgeordnetenhaus statt. 264 Tage später ist es dem Wahlsieger Andrej Babiš nun gelungen, im Parlament das Vertrauen von 105 der 200 Abgeordneten für seine neue Koalition zu gewinnen. Babišs Partei ANO („Akce nespokojených občanů“ – Aktion unzufriedener Bürger; „ano“ heißt tschechisch auch: „ja“) verfügt dort über 78 Sitze. Nach zähen Verhandlungen gelang es ihm, mit der Sozialdemokratischen Partei (ČSSD) einen Koalitionsvertrag abzuschließen. Vorangegangen war wie in Deutschland ein Mitgliedervotum innerhalb der ČSSD, allerdings zog sich dieses über vier Wochen hin. Schließlich sprachen sich rund 60 % der Parteimitglieder dafür aus, dieses Bündnis einzugehen. Anders als in Deutschland war dieser Koalition aber noch immer keine Mehrheit im Parlament sicher, denn die Sozialdemokraten gewannen im Oktober mit gut 7 % nur 15 Sitze. Die neue Regierung hat deshalb ein Tolerierungsabkommen mit der Kommunistischen Partei (KSČM) abgeschlossen, die ebenfalls 15 Volksvertreter ins Abgeordnetenhaus entsendet. Der Start der neuen Regierung verlief mehr als unglücklich. Innerhalb einer Woche sahen sich sowohl die Justizministerin als auch der Arbeitsminister zum Rücktritt gezwungen, weil sie ihre akademischen Grade durch Plagiate erworben haben.
Protestierende in der Minderheit
Viele Tschechen reagieren auf diese Konstellation mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Entsetzen, gehen auf die Straßen und protestieren. Die Kommunisten als Teil eines Regierungsbündnisses, keine 30 Jahre nach der Samtenen Revolution? Angeführt von einem Premierminister, der überführt ist, für die Staatssicherheit der ČSSR gearbeitet zu haben? In Deutschland dürfte Andrej Babiš kein öffentliches Amt bekleiden. Die Vereidigung des neuen Kabinetts fiel zudem unglücklicherweise fast auf den Tag zusammen mit dem Gedenken an die Opfer des Stalinismus. „Tausend Jahre Gefängnis, Hinrichtungen, zehntausende zerstörte Leben, das ist das Werk der Staatssicherheit“ schrieb Václav Havel 2006 in seinen Erinnerungen („Fassen Sie sich bitte kurz“, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 126). Fast zehn Jahre nach seinem Tod scheint es angebracht, einige Gedanken dieses großartigen Präsidenten in Erinnerung zu rufen.
Die Protestierenden sind in der Minderheit. Knapp 52 % der Wahlberechtigten haben im Januar 2018 Präsident Miloš Zeman zur Wiederwahl verholfen. Zeman hat mit den Kommunisten kein großes Problem, in vielen Punkten ist er mit ihnen einig, etwa in der Ablehnung des von den Sozialdemokraten zum Außenminister nominierten EU-Abgeordneten Miroslav Poche, dessen Positionen in der Flüchtlingspolitik im Blick auf die Verantwortung und die notwendige Solidarität der ostmitteleuropäischen Staaten in der EU jenen des Staatspräsidenten und der Kommunisten diametral entgegenstehen. Im April sprach Zeman auf dem Parteitag der Kommunisten, wo er sie immerhin zu mehr Selbstreflexion aufrief. Dies ist mehr als angebracht: Die kommunistische Partei in Tschechien unterscheidet sich von Nachfolgeparteien in anderen Staaten jenseits des „Eisernen Vorhangs“ insofern, als sie sich in keiner Weise von den Verhältnissen vor 1989 distanziert – im Gegenteil. Nordkorea ist nach der Überzeugung ihres ehemaligen Vorsitzenden ein Musterstaat.
Entscheidender Einfluss durch Präsident Zeman
Dem Präsidenten ist nach dem für eine Regierungsbildung komplizierten Ausgang der Parlamentswahlen eine bedeutende Rolle zugewachsen. Er benennt den Premierminister, der eine neue Regierung bilden soll. Zeman hat dazu Andrej Babiš ernannt und ihm empfohlen, eine Koalition mit der Partei des Tschechojapaners Tomio Okamura („SPD – Svoboda a přímá demokracie“ – Freiheit und direkte Demokratie) einzugehen. Die tschechische SPD vertritt extrem fremdenfeindliche Positionen und plädiert für einen Austritt Tschechiens aus der EU. Da erscheinen selbst die tschechischen Kommunisten fast als das kleinere Übel.
Einen Verantwortlichen für die Rückkehr der Kommunisten in eine Position der Macht sehen nicht wenige, sogar wenn sie ihn als Präsidenten in dankbarer Erinnerung haben, ausgerechnet in Václav Havel. Der Vorwurf lautet, er habe seinerzeit nach dem Sturz der kommunistischen Diktatur die Gelegenheit verstreichen lassen, die Kommunistische Partei ein für allemal zu verbieten – und dies sei sein vielleicht größter Fehler gewesen. Es ist an der Zeit, an diesen unvergleichlichen Denker zu erinnern. Havel hat sich zu dieser Frage wie folgt geäußert: „Wir haben immer gesagt, dass Straftaten zu bestrafen sind (...). Als politische Partei hat die KPČ also die Chance bekommen, sich zu reformieren. Nicht etwa, weil sie so schnell und ohne Kampf die Macht aufgegeben hat, sondern weil das logisch war. Die meisten kommunistischen Parteien in Osteuropa haben sich erfolgreich zu verschiedenen Typen sozialdemokratischer Parteien verwandelt, haben es geschafft, absolut klar ihrer Vergangenheit zu entsagen und all ihrer Vertreter, wobei das Ganze immer dem Allgemeinwohl diente. Warum hätten unsere Kommunisten nicht auch eine solche Chance erhalten sollen? Dass sie sie nicht genutzt haben bzw. dass alle Versuche dazu von den Konservativen in der Partei unterdrückt wurden, ist eine andere Sache. Dass sie damit durchgekommen sind, ist wohl ein Fehler, aber bestimmt nicht ausschließlich meiner; wenn in der Gesellschaft und in den neu sich formierenden politischen Repräsentationen der Wille vorgeherrscht hätte, radikaler vorzugehen, wäre das sicher geschehen. Ich war schließlich kein unbegrenzter Diktator, der darüber entscheidet, welche Parteien verboten werden und welche nicht. Man kann mir wohl nur vorwerfen, dass ich diesen Gedanken damals nicht häufig laut wiederholt habe. Aber mir scheint es nicht so, dass zu Anfang der neunziger Jahre eine günstige Atmosphäre dafür herrschte, rufen wir uns nur ins Bewusstsein, wie viele Menschen, einschließlich späterer bekannter antikommunistischer Politiker, früher in der Partei waren und wie viele Leute sich also fürchten konnten, dass dieses Verbot für sie böse Folgen haben könnte. Etwas anderes war die kommunistische mafiose Ausnutzung der Privatisierung, dagegen bin ich von Anfang an scharf aufgetreten…“ („Fassen Sie sich bitte kurz“, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 76)
Sieg der sprichwörtlichen 'tschechischen Kleinheit' ?
Genau diese Ausnutzung der von Partei und Stasi beherrschten Strukturen hat Andrej Babiš als Agro- und Medienunternehmer vermutlich zum Milliardär gemacht. Viele naive Zeitgenossen denken heute: Wer so erfolgreich ist, muss doch seine Qualitäten haben! Hier kommt ein Element ins Spiel, das Havel im Blick auf seine tschechischen Mitbürger und auf die Jahre 1938 sowie 1968 als „tschechische Kleinheit“ treffend beschrieben hat, das aber sicher übertragbar ist: „Und in das öffentliche Leben wälzt sich der Schlamm, der Abschaum, bemächtigt sich der Medien, und die Kontinuität des freien Geistes und der Menschenwürde aufrechtzuerhalten bemühen sich nur irgendwelche Dissidenten und Widerstandskämpfer, die von der Mehrheitsbevölkerung als eine Art Provokateure wahrgenommen werden, die die Übrigen überflüssigerweise in Gefahr bringen. (...) Es siegt die tschechische Kleinheit in der schlimmsten Bedeutung dieses Begriffs. (...) Heute – in einem völlig anderen und gepflegteren ideologischen Cocktail – tauchen bei uns dieses Haltungen wieder auf. Ihre sichtbarste Äußerung ist das Antieuropäertum. Das ist doch im Grunde dasselbe Verhältnis zur Welt: warum sollen wir uns mit jemandem beraten, warum sollen wir auf jemanden hören, warum sollen wir mit irgendeinem Fremdling Macht teilen, warum sollen wir jemandem Fremden helfen?“ (ebd., S. 138 f.)
Tschechien könnte der EU manches geben – wenn es sich auf Václav Havel berufen würde. Leider ist die herrschende Elite davon meilenweit entfernt.
Havel schrieb 2006: „Europa hat einst auf ziemlich aggressive Weise seine neuzeitliche Wertestruktur dem ganzen Planeten aufgezwungen, es stand also am Beginn dieser zweideutigen Bewegung, die man heute Globalisierung nennt. (…) Die heutige Europäische Union kommt mir furchtbar technokratisch und materialistisch vor. (…) Ihre Identität kann doch nicht durch das Einholen globaler ökonomischer Erfolge oder gar durch Hinterherhinken hinter ihnen geschaffen werden. Ich denke, sie kann mehr. Sie kann nicht nur Beispiel einer friedlichen und gerechten Ordnung im Rahmen eines Kontinents sein, sondern auch Beispiel des sinnvollen und schonenden Umgangs mit den eigenen Traditionen, der eigenen Kultur, der eigenen Landschaft, den eigenen Ressourcen.“
Havel wollte ein anderes 'Visegrad'
Der Gruppe der Visegrad-Staaten – Tschechien, Polen, Ungarn und der Slowakei – empfahl Havel die Rolle eines Mahners, aber keineswegs wie aktuell gegen Migration: „Die Europäische Union leidet hin und wieder an einer alten europäischen Krankheit, nämlich der Neigung zum Kompromiss mit dem Bösen, dem Zudrücken der Augen vor Diktaturen, der Politik des Appeasement oder sogar dem Entgegenkommen gegenüber totalitären Systemen, diktiert von wirtschaftlichen Interessen. Einige Politiker, die den Nationalsozialismus oder Kommunismus nicht erlebt haben, sind darin unbelehrbar. Ich glaube, die neuen Mitglieder der Europäischen Union, die mit dem totalitären System relativ frische Erfahrungen haben, hätten die Möglichkeit oder sind geradezu verpflichtet, auf dem gemeinsamen Boden – wenn es hin und wieder notwendig ist – grundsätzlichere Standpunkte zu vertreten und auf die Europäische Union in dieser Hinsicht ein wenig aufzupassen oder sie zu erziehen. Das ist im Interesse aller. Entgegenkommen gegenüber dem Bösen hat das Böse bisher noch nie zu Konzessionen oder zu Vermenschlichung veranlasst, es hat ihm immer nur das Leben erleichtert.“ (ebd., S. 362)
Trump ist böse. Putin ist böse. Es wäre viel zu tun. Leider kam Václav Havel nicht umhin, festzustellen: „Um Miloš Zeman gab es nicht so viel dicke Luft wie um Václav Klaus, aber er konnte sehr hart sein starrköpfig, geschwätzig, ja auch böse.“ (ebd., S. 255)
Werner Imhof
Foto: Pixabay
Der deutsche Historiker, Verleger und Übersetzer Werner Imhof arbeitete lange für die Brücke-Most-Stiftung und ist heute Tschechien-Korrespondent der Wochenzeitung 'Jungle World'.