Mitten in der größten CO2-produzierenden Region Europas, dem Rheinischen Braunkohlerevier, trafen sich im August ca. 1000 Menschen zu einem internationalen Klimacamp, das mit einer spektakulären und medienwirksamen Grubenbesetzung endete. Zuvor fand dort unter anderem auch die Degrowth-Sommerschule zum Thema Klimagerechtigkeit statt. Teilnehmerin Tanja Täubner berichtet für die „Hallesche Störung“ von einer visionären, hierarchiefreien und selbstorganisierten Campwoche im Zeichen des „Prinzips Verantwortung“.
Nach zehn Stunden Zugfahrt mit schwer bepacktem Rad steige ich erschöpft mit drei anderen Aktivisten in Erkelenz aus. Auf dem Bahnhofsvorplatz erwartet uns ein Empfangskomitee, das uns entlang der Pfeile den Weg weist bis zum Camp nahe des Tagebaus „Garzweiler I“. Wir radeln durch belebte Dörfer, vorbei an surrenden Windrädern und holpern schließlich zwischen Äckern auf das Camp zu. Ich traue meinen Augen kaum: links und rechts wachsen Kohlrabis unter Netzen, Mohrüben, Futterrüben und Eissalate. „Die Böden haben eine 20 bis 30 Meter tiefe Lößschicht“, erklärt mir Bauer Kradepohl von seinem modernen Traktor herunter. „Hier wächst alles, was du aussäst!“ Er nennt es eine „Katastrophe“, dass die Böden rund um das Camp zum Abbaggern freigegeben sind. RWE hat das politische Ja-Wort der Landesregierung, um sein am Horizont rauchendes Kraftwerk bis 2045 mit der minderwertigen Braunkohle zu beschicken, die unter den ertragreichen Ackerböden liegt. In einer Woche wollen die Klimaaktivisten unter dem Motto „Ende Gelände, keinen Meter weiter!“ dem größten CO2-Produzenten Europas die Stirn bieten.
Zwischen Plenum, Achtsamkeits- und Schnippelgruppe
Als wir ankommen, beginnt gerade eine Führung über das Camp. Das bepackte Rad parke ich hinter den Infotafeln. „Keine Sorge“, ruft mir einer zu, „hier klaut keiner was.“ Ok, ich werfe diese Sorge, die mir die Bahnhofsansagerin unentwegt eintrichtern wollte, ab - und brauche sie tatsächlich die nächsten sieben Tage nicht mehr. Mann und Frau, beide unter 30, erklären uns abwechselnd die Campstrukturen. „Die Orga-Teams vom Klimacamp und der Degrowth-Sommerschule, die im letzten halben Jahr in mehreren AGs und Telefonkonferenzen Programm und Infrastruktur auf die Beine gestellt haben, wollen die Verantwortung für den Ablauf des Camps mit euch allen teilen.“ Zuerst bewundern wir die selbst gebauten Duschen auf dem Feld und die Kompostklos. „Pissen vorn, Kacken hinten, dann zwei Hände Sägespänne drauf und Hände waschen.“ Am Infozelt hängen nicht nur die Pläne mit den Workshops und Plenarunden für jeden Tag aus, sondern auch ein Schichtplan. Jede/r soll sich eintragen, aber Vorsicht: wenn man die Klos sauber macht, darf man zwei Tage lang nicht mehr in die Schnippelgruppe, die dem Küchenteam zuarbeitet. Außerdem werden Leute gesucht für die Kinderbetreuung, die Achtsamkeitsgruppe, beim Dolmetschen der Vorträge, im Infozelt oder für die Nachtwache. Programmhefte liegen aus, aber sie sind nicht zum ‚Haben’ sondern zum ‚Teilen’ da. Auf den ersten Seiten ist zu lesen: „Das Campleben kann nur funktionieren, wenn es von uns allen mitgetragen wird und alle füreinander Verantwortung übernehmen. Das Gute daran: Ihr könnt euch überall einbringen, mitentscheiden und ganz viel lernen... Das Doofe: Wenn was nicht so gut läuft, gibt es keine zuständige Stelle, bei der ihr euch beschweren könnt.“
Genius Loci in der Essensschlange
Diese pädagogische Idee, den Menschen Verantwortung zu geben, um sie daran wachsen zu lassen, geht auf. Das erlebe ich dreimal am Tag bei der Essensvorbereitung und -ausgabe. Ein superfittes Team aus Holland kocht vegan und versorgt uns mit selbst gebackenem Brot. Zu festen Zeiten wird das Essen ausgeteilt bzw. schmieren wir uns die Brote unter vier Zeltdächern selbst. Kein Drängeln oder Schubsen, eine/r schneidet gleich zehn Scheiben vom Brot für die anderen mit, man/frau streicht sich das gewürzte Erbsenpüree aufs Brot und macht Platz. Wenn es abends warmes Essen gibt, mäandert sich eine 700köpfige Schlange über die gesamte Hauptwiese! Im normalen Leben würde sich kein Mensch dort anstellen, aber hier tut man/frau es. Fröhlich schwatzend oder die Weltlage diskutierend geht es rasch voran und nebenbei habe ich wieder einen interessanten Menschen kennengelernt.
Lena, unter 30 wie die meisten hier, studiert Umweltpsychologie in Jena. Sie hat gerade an einem der täglichen Aktionstrainings teilgenommen. Begeistert erzählt sie, dass unter professioneller Anleitung interne Gruppen eingeteilt und in diesen geübt wird, wie (hierüber schweige ich) die Polizeiketten überwunden und der Einstieg in die Grube gewagt werden soll. Ziel ist es, friedlich und ohne Eskalation die Bagger von RWE zu blockieren. Diese Tat zivilen Ungehorsams sei bewusst gewählt, meint Lena. „Friedliche Demos und die Lichterketten der Bewohner schon vor 20 Jahren hielten und halten das Kartell aus Politik und Energiekonzern nicht auf.“ Auf den ‚umher(f)liegenden’ Flyern im Camp wird die Aktion ähnlich messerscharf gerechtfertigt. „Mit seinen drei Tagebauen und fünf Kraftwerken ist das rheinische Braunkohlerevier Europas größte CO2-Quelle. Gleichzeitig spitzt sich die Klimakrise immer weiter zu. Weltweit steigen die CO2-Emissionen trotz noch so vieler Klimagipfel und Lippenbekenntnisse der herrschenden Politikerinnen. Extremwetterereignisse wie Überschwemmungen, Dürren, Wirbelstürme häufen sich. Die Folgen bedeuten Armut, Trinkwassermangel, Hungersnöte, Flucht für Millionen Menschen.“
Wandel „by design“ statt „by disaster“
Alle diese jungen Menschen, die unter der heißen Sonne auf der Wiese von Bauer Heukamp sitzen und lachend essen können, haben keine Lust mehr, der Vernichtung ihrer Zukunft zuzusehen. Sie werden mutig und fröhlich an diesem Ort, an dem sie den Klimaschutz und ihr Zusammenleben selbst in die Hände nehmen. Die Stimmung der Selbstermächtigung zieht sich durch alle Workshops. Welches Zelt ich auch besuche, immer wieder erlebe ich die Vortragenden als engagierte Kritiker des konkreten Elends vor ihrer Haustür: Sei es Lothar Lehmann, der mit seinem Netzwerk „Energie Bildung Altmark“ über die hundsgefährlichen Frackingversuche in der Altmark aufklärt, oder Klaus Engert, der als Arzt in Nigeria lebt und anschaulich schildert, wie dort die Lebensgrundlagen und die Moral der Menschen durch die Abhängigkeit vom Öl zerstört werden. Genauso klug und engagiert erlebe ich die Teilnehmer, wenn sie über eine radikale Umgestaltung der globalen Verwertungsstrukturen diskutieren. Auf den abendlichen Podiumsdiskussionen im großen Zirkuszelt wird mir der Degrowth-Gedanke immer deutlicher: Die soziale und die ökologische Krise lässt sich nicht durch eine Umstellung auf grüne Technologien lösen. Auch dann werden wir die kapitalistischen/ privatisierenden Denk- und Verhaltensmuster nicht los. Wir brauchen einen Wandel „by design“ und nicht „by disaster“. In allen Seminarzelten glimmt die Hoffnung, dass „wir diejenigen sein können, die zuerst ihr eigenes Denken und Fühlen befreien“, wie Serge Latouche, ein Degrowth-Vordenker, schreibt. Sind die Gedanken erst frei, folgt die Tat von selbst.
Am Morgen des 15. August, kurz nach Sonnenaufgang, machen sich die Bezugsgruppen mit Schutzanzügen und Proviant auf, um den Stromgiganten RWE herauszufordern. 800 Security-Leute und 1000 Polizisten erwarten sie an der Grubenkante. Der Himmel ist wolkenverhangen. Am Horizont raucht das Kraftwerk und im Vordergrund surren leise die Windräder. Über dem Camp kreist bedrohlich ein Hubschrauber. Ein Warnzeichen der Staatsmacht oder Vorbote der Angst? Angst, die Herrschaft über die Ressourcen und die Menschen zu verlieren. Doch was kann sie ausrichten gegen die Macht einer gemeinsamen Utopie, die 800 Menschen sieben Tage lang über sich selbst hinauswachsen ließ?
Tanja Täubner, Leipzig
Die Erziehungswissenschaftlerin und Politologin Dr. Tanja Täubner ist Dozentin, Yogalehrerin und Autorin. Darüber hinaus beschäftigt sie sich intensiv mit dem Marionettenspiel und engagiert sie sich in TransitionTown-Bewegung.
Links:
Homepage des Klimacamps 2015
Ende Gelände! - Aktionsseite
degrowth -Webportal mit Ergebnissen der Sommerschule