Der hallesche Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz ist durch seine Bücher zu den psychosozialen Bedingungen des Lebens in der DDR und in unserer heutigen Gesellschaft bekannt geworden. Er gehört zu den Gründern der „Hans-Joachim Maaz Stiftung für Beziehungskultur“, die mit Unterstützungsangeboten für Krippen und Eltern dazu beitragen will, dass Kinder liebevoller aufwachsen. Das könnte die Gesellschaft von dem hohen Stördruck entlasten, der von den vielen seelisch beschädigten Personen ausgeht.
Seit dem vergangenen Jahr äußert sich Hans-Joachim Maaz kritisch zum Umgang mit dem Flüchtlingsproblem. Er erhebt unter anderem die Forderung an die Politik, dass es verbindliche Obergrenzen für den Zuzug geben müsse, weil es sonst zu einer gefährlichen Überforderungssituation unserer Gesellschaft kommen könnte.
Die hallesche störung hat mit Dr. Maaz über seine Sicht auf unsere Gesellschaft und ihre Probleme gesprochen.
hallesche störung: Herr Dr. Maaz, Theodor W. Adorno hat einmal geschrieben: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Stimmt das aus Ihrer Sicht? Können wir gut leben, gute Beziehungen haben in einer, wie Sie es beschreiben, narzisstisch gestörten Gesellschaft?
Das ist ein großes Thema. Ich beschäftige mich gerade damit und schreibe an einem Buch, das ich „Im falschen Leben“ nenne. Ich meine, Adorno hat Recht und nicht Recht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse setzen sich über ökonomische, politische und soziale Bedingungen durch und werden dem einzelnen vermittelt durch Erziehung, durch die Eltern oder auch die Kinderkrippe. Sie tragen dazu bei, dass jeder Mensch von den Normen der Gesellschaft, auch denen, die abnorm oder zumindest problematisch sind, erreicht und betroffen ist. Ich habe dafür den Begriff der Normopathie gefunden, d. h. eine Verhaltensweise ist krank oder gestört, erscheint aber als „normal“, weil fast alle sich so verhalten. Ein wunderbarer Begriff. Man kann sich dem kaum entziehen, was von einem erwartet wird und wird so ins gestörte Leben gedrängt. Ich glaube, es ist die Aufgabe und Verantwortung jedes Einzelnen, zu finden, wie er sich dennoch, wenigstens teilweise, entziehen kann, wie er ehrlicher, offener, gesünder, echter, authentischer leben kann. Das ist ein nie endender Prozess, eine Aufgabe, die man nicht abschließen kann, die nie erfolgreich bestanden ist. Die Herausforderung, mit den oft überzogenen und falschen Erwartungen zurechtzukommen, erwächst immer neu. Wie werde ich trotzdem mir und meiner Natürlichkeit gerecht? Um diesen Kampf geht es. Jeder Mensch sollte diese Verantwortung annehmen und sich um diese innere Auseinandersetzung bemühen, um in pathologischen, schwierigen, gestörten äußeren Verhältnissen halbwegs gesund bleiben zu können. Es gibt ein begrenzt richtiges Leben im falschen!
stö: Gibt es eine Natur, ein Wesen des Einzelnen, das nicht durch eine schädigende, gestörte Umgebung angegriffen wird, das man also wiederfinden und entwickeln kann?
Ich unterscheide zwischen einem echten, wahren Selbst und einem falschen Selbst. Nach meiner psychotherapeutischen Erfahrung ist das wahre oder authentische Selbst keinem von uns vollständig zugänglich. Die Erziehung hat uns so beeinflusst und uns von uns selbst entfremdet, dass wir viele Teile dieses Selbst gar nicht entdecken oder entwickeln konnten oder nur teilweise. Die Aufgabe, das wahre Selbst zu entwickeln, wird also nie vollständig gelingen können. Zugespitzt gesagt: Der absolut gesunde Mensch mit einem wahren Selbst wäre einer, der sofort getötet oder eingesperrt werden würde, er wäre unerträglich. Er müsste in einer normopathischen Gesellschaft als verrückt gelten, weil er durch seine Existenz den Unterschied deutlich machen würde und jeder bekäme seine Fehlentwicklung gespiegelt. Dem Gesünderen droht Verfolgung und Vernichtung, damit das Gestörte als gut und richtig unangetastet bleibt. Eine vollständige, wahrhaftige Identität gibt es nicht. Vielleicht hat es sie nie gegeben. Mit der anthropologischen Seite habe ich mich aber nicht befasst. Für uns heute kann man sagen, dass die wahrhaftige Identität nicht vollständig gelebt werden kann, wir es aber dennoch anstreben müssen, immer weiter ein Stück ins Wahre, ins Echte, ins Ehrliche zu kommen. Das fasse ich unter dem Begriff der Würde des Menschen. Man kann auch unter schlimmsten Bedingungen bemüht bleiben und es auch schaffen, in Würde zu sein.
stö: Auch als Einzelner?
Ja, auch als Einzelner. Es ist sicher sehr schwierig und wäre für mich auch nichts, was man bewertet – „Das hast du nicht gut gemacht, da bist schuldig geworden“ … Ich bemühe mich immer zu verstehen, was einen Menschen hindert, besser zu sich zu finden, seine Würde zu wahren, sich nicht zu verkaufen. Ich behaupte, es gibt keinen geborenen bösen Menschen, keinen geborenen Gewalttäter, Kriminellen oder Extremisten. Das sind alles gemachte, durch psychosoziale Einflüsse geschädigte Menschen, die dann zu solchen Fehlentwicklungen finden. Das kann man verstehen. Als meine Mission sehe ich, diese Zusammenhänge immer wieder anzusprechen, aufzudecken und zu kritisieren, um Verhältnisse schaffen zu helfen, in denen weniger Entfremdung entstehen muss.
Ein Beispiel: Zu Recht sagen wir, dass ein rechts- oder linksextremer Terrorist oder ein Islamist Straftaten begeht, die zu ahnden und zu bestrafen sind. Das ist notwendig. Es gibt aber vergleichbare strafbare Delikte, kriminelle Verhaltensweisen unter Bankern oder Managern wie z. B. der Abgasskandal bei VW oder die Geschichte mit den Briefkastenfirmen in Panama, die sind auch kriminell, werden aber völlig anders bewertet. Da zeigt sich, wie gesellschaftliche Normen dazu beitragen, dass gestörte Verhaltensweisen völlig unterschiedliche Bewertungen erfahren, je nach den Machtverhältnissen.
stö: Dabei gilt es ja als eine der großen Errungenschaften der modernen Gesellschaft, dass Gesetze für alle in gleicher Weise gelten.
Aber solche Bewertungsunterschiede haben sich immer stärker herausgebildet, inzwischen spricht man ja sogar davon, dass Gesetze für Reiche und für Ärmere unterschiedlich angewendet werden.
stö: Die Stiftung Beziehungskultur gibt es seit 2013. Wie kam es zu ihrer Gründung?
Die Gründung entstand aus einer Gruppe von Psychotherapeuten heraus, mit denen ich seit Jahren zusammenarbeite. Wir sind verbunden mit dem Choriner Institut für Tiefenpsychologie, weil wir uns seit über dreißig Jahren dort regelmäßig treffen und über unsere Arbeit und natürlich immer auch über die sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhänge diskutieren. Der Psychotherapeut muss eigentlich immer auch politisch sein. Er bekommt Zusammenhänge mit, über die in der Öffentlichkeit nicht gesprochen wird, die nicht bekannt sein sollen, die tabuisiert sind. Aber bei der Arbeit mit Menschen in Not kommen eben auch Probleme zur Sprache, die man sonst lieber nicht mitteilt, weil man dafür bestraft wird, verhöhnt oder dergleichen. Wir hatten den Eindruck gewonnen, unsere Arbeit komme immer zu spät, nämlich wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Der Schaden ist schon entstanden – durch falsche Erziehung, falsche Werte, nach denen man strebt, die aber durch die ideologischen, politischen oder ökonomischen Verhältnisse in der Gesellschaft vorgegeben sind – hier zeigen sich zum Beispiel große Unterschiede zwischen Ost und West: In der DDR war es mehr der ideologische Druck, im Westen war und ist es stärker der ökonomische …
Wir waren also unzufrieden und wollten nicht immer nur therapieren, was schon geschehen ist, sondern das, was wir als Prävention verstehen, umsetzen und unser Wissen, wie psychische Probleme aus der Persönlichkeitsentwicklung in einer Gesellschaft entstehen, berücksichtigen. Aber das bezahlt keine Krankenkasse, auch der einzelne nicht … Wir haben uns gefragt, was man machen kann und sind auf die Idee, diese Stiftung zu gründen gekommen, um Geldspenden zu sammeln und präventive Angebote machen zu können. Das erste, was schon läuft, und gut läuft … Also, wir sind alle gegen Kinderkrippen … vorsichtiger gesagt, wir sind alle für eine möglichst optimale Betreuung des Kleinkindes, aus der Sicht des Kindes gedacht. Es kann sein, dass das Kind wirklich schlechte Eltern hat, eine böse Mutter zum Beispiel. In dem Falle sollte es in andere Hände kommen. Krippen sind aber so oft schlecht ausgestattet oder überfordert, so dass ein Kind auch dort kaum Chancen hat, wirklich gut und individuell verstanden und betreut zu werden.
In unserer Gesellschaft ist das Thema Mütterlichkeit eher ein Tabu. Im Vordergrund steht die berufstätige Frau, die Karrierefrau, viel stärker als eine Frau, die mütterliche Qualitäten entwickelt … Da war für uns klar, dass wir hier mit der präventiven Arbeit anfangen müssen. In den Krippen gibt es meist zu wenig Personal und zu viele Kinder, zu wenig emotionale Bindung … das schafft Riesenprobleme … Daher bieten wir den Krippen Supervision an, das gibt es sonst nicht oder nur selten. Krippenerzieher kommen zusammen, um über problematische Kinder zu sprechen oder über Kinder, mit denen sie in der Betreuung Probleme haben, denn es entstehen große Konflikte, wenn sich ein Kind nicht verstanden oder schlecht behandelt fühlt. Das kann an der Erzieherin liegen, weil sie nicht gut genug ist oder hilflos oder auch, weil das Kind eine Schwierigkeit mitbringt, für die die Erzieherin nicht verantwortlich ist, mit der sie aber umgehen muss. Wir sammeln Geld, um Supervision zu bestellen, Supervisoren, die regelmäßig in die Krippen gehen. Solche Projekte gibt es in Dresden, in Halle, Leipzig und Jena. Immer wenn wieder etwas Geld zusammengekommen ist, können wir ein neues Angebot machen.
Das zweite Feld, in dem wir aktiv sind, ist die Elternbetreuung. Wir wissen aus unserer Forschung, dass die Bedeutung der leiblichen Mutter kaum zu überschätzen ist … Durch Schwangerschaft, Geburt, Stillzeit hat sie einen Beziehungsvorlauf, den kein anderer übernehmen kann. Wenn die Mutter vorzeitig, d. h. vor dem dritten Lebensjahr, die Betreuung abgibt, dann wird das für das Kind immer belastend sein. Diese besondere Bedeutung der Mutter verliert sich erst mit dem Ende des dritten Lebensjahres, wenn nämlich das Kind selbst von der Mutter weg will und mehr soziale Beziehungen braucht. Kindergärten sind notwendig und sinnvoll, damit das Kind neue, andere Sozialkontakte aufbauen kann als zur Mutter oder in der Familie ... Es ist für uns klar, dass die Beziehungsfähigkeit der Eltern – wir differenzieren Mütterlichkeit und Väterlichkeit – für die Entwicklung des Kindes wichtig ist. Daher hatten wir die Idee, eine Elternschule zu finanzieren, die kein pädagogischer Ratgeber sein will, sondern den Eltern Raum geben möchte, auszusprechen, wie es ihnen als Mutter oder Vater geht, was sie selbst an mütterlichen oder väterlichen Erfahrungen haben. Oft entstehen auch Paarkonflikte, wenn ein Kind geboren wird. Aus der Zweierbeziehung wird eine Dreierbeziehung und das Paar hat sich nicht vorstellen können, was das bedeutet. Die Beziehung kränkelt und oft bekommt die Probleme dann das Kind ab. Die Elternschule will Unterstützung bieten, um das Elternsein besser verstehen zu können und die innere Einstellung zum Kind zu verbessern. Eine beziehungsdynamische Elternschule also.
[Informationen unter: Stiftung Beziehungskultur]
stö: Wenn eine Mutter mit ihrem Kind Probleme hat, heißt es dann, dass sie selber eine Frühstörung in ihrer Mutterbeziehung hat und man sie in einen therapeutischen Zusammenhang einladen müsste?
Ja, auf jeden Fall. Die Probleme eines Kindes sind immer von den Eltern verursacht oder mitverursacht. Jedes Kind ist natürlich von Anfang ein eigenes Individuum. Es gibt Kinder, die eine Herausforderung für ihre Eltern sind, weil sie von vornherein ganz anders sind, als ihre Eltern das erwartet haben oder womit sie umgehen können. Das aber ist nicht dem Kind anzulasten. Eltern haben eine ganz wichtige Aufgabe: Von ihrer Vorstellung, wie ihr Kind sein soll, abzulassen und Neugier zu entwickeln, was sie eigentlich für ein Kind haben und wie es werden könnte. Und nicht zu sagen: „Du musst lernen, so oder so zu sein!“ Für jedes Kind, das solchen Vorgaben nachstreben muss, setzt eine Entfremdung von sich selbst ein, es entwickelt kein echtes Selbst, sondern ein aufgenötigtes, angelerntes. Davon sind wir fast alle betroffen. Eltern, die ihr Kind entdecken wollen und ihm helfen, seine Möglichkeiten zu entwickeln und die dabei auch akzeptieren, was das Kind nicht mitbringt, die also seine Andersartigkeit und seine Begrenzungen akzeptieren, die können ihrem Kind eine gute, stabile Selbstbestätigung geben. Damit können sie dazu beitragen, dass eine Gesellschaft entsteht, die gesünder ist, demokratischer, weil ihre Kinder selbst demokratischer sind, denn sie kennen sich und ihre eigenen inneren Minderheiten und können damit umgehen.
stö: Können Eltern das annehmen?
Ja. Wir machen das schon länger, aber auf Bezahlbasis, denn auch dafür bezahlen die Krankenkassen nicht. Wir haben Therapeuten, die Elternschulen anbieten. Eltern, die selbst dafür bezahlen, sind ohnedies sehr offen dafür und nehmen das gerne an. Viele Eltern können sich ein solches Angebot aber nicht leisten und wehren es ab. Wenn wir die Elternschule ohne Bezahlung anbieten, dann können wir auch sie erreichen.
stö: Ist der Coach auf ein Paar bezogen oder berät er Eltern in größeren Gruppen?
Beides. Man kann ein Paar individuell beraten, z. B. wenn es Dinge zu besprechen gibt, die peinlich oder schwierig sind, in einer Gruppe hingegen kann man voneinander lernen, bereichert man sich untereinander.
stö: Wie gehen Sie mit Alleinerziehenden um?
Genauso. Sie haben es doppelt schwer, sie müssen beide Funktionen erfüllen, die der Mutter und die des Vaters.
stö: Wenn man über schwere Störungen in der Beziehung zur Mutter und zum Vater spricht, werden sehr belastende Gefühle lebendig, die einst um des Überlebens willen verschoben oder abgespalten werden mussten. Wenn man das aufarbeiten möchte, kann man das nicht nebenher machen.
Ja, das ist richtig. Wir müssen immer bedenken, bis wo kann man Coaching noch verantworten und ab wann muss eine therapeutische Arbeit einsetzen. Dafür braucht es ausreichend Zeit und Schutz, nichts, was man in zehn Stunden abarbeitet. Da muss man einen längeren Betreuungsrahmen anbieten, wofür man dann die Krankenkassen heranziehen kann.
stö: Was halten Sie von der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens zur „Finanzierung“ oder sozialen Absicherung solcher Selbstfindungsvorgänge?
Im Prinzip finde ich das sehr gut. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das auch missbraucht werden kann … in dem Sinne, dass den Menschen dann der Ansporn oder Anreiz fehlt, sich um sich und die eigene Entwicklung zu kümmern. Wenn von frühkindlicher Bildung gesprochen wird, sage ich, das ist Quatsch, es geht nicht um Bildung, sondern um BINDUNG. Wenn ein Kind gute Bindungen erfährt, dann WILL es sich bilden, will es lernen, das ist ein natürliches Bedürfnis. Dieses Bedürfnis kann aber verschüttet sein, vernachlässigt. Wir haben es zunehmend mit jungen Menschen zu tun, die nichts wollen, nur abchillen, die keinen Bock haben oder Drogen nehmen … in dem Falle hätte ich Sorge, wenn sie einfach finanziell versorgt wären, ohne dass es ein Angebot gäbe, eine Herausforderung, das natürliche Entwicklungsbedürfnis freizulegen oder zu unterstützen.
Also es wäre gut, wenn es so etwas gäbe, aber das müsste eingebettet sein in eine psychosoziale Begleitung.
stö: Wenn die Gesellschaft „mütterlicher“, annehmender und beziehungsreicher wäre, dann würde es weniger Therapiebedarf geben. Was müsste geschehen, um unsere Gesellschaft mütterlicher zu machen?
Was geschehen müsste, gleicht einer revolutionären Idee. Wir müssen davon ausgehen, dass in einer unbegrenzten Wachstums- und Leistungsgesellschaft Menschen an die politische und ökonomische Macht kommen, deren Einstellung aus narzisstischen Problemen resultiert. Die narzisstische Störung ist im Wesentlichen eine Muttermangelstörung, eine Liebesbestätigungstörung. Menschen streben ersatzweise nach Ruhm, Geld und Macht, um die mangelnde Bestätigung, das Gefühl der Minderwertigkeit und Unsicherheit nach außen hin zu kompensieren. Diese Menschen kommen durch ihre besondere Anstrengung in Machtpositionen. Und sie haben dann kein Interesse daran, dass sich der Umgang mit Kindern ändert, dass sich ein neues, wertschätzendes Beziehungsverständnis verbreitet und finanziell unterstützt wird. Dadurch würde ja der eigene Entwicklungsweg in Frage gestellt, es würde deutlich, dass es bessere Wege gegeben hätte …. So viel Großmut, anderen etwas Besseres einzuräumen, als man selbst hatte, ist nicht zu erwarten.
stö: Was kann man tun?
Die Erfahrung mit dem Kollaps der DDR zeigt, es gibt doch plötzliche, überraschende Ereignisse, die keiner vorhergesehen hat. Wir sind ja heute wieder in einer Situation, dass die Gesellschaft sich in einer Krise befindet – EU-Krise, Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise – große Gefahren, die zu konflikthaften Veränderungen führen. Die Krisen bieten auch eine Chance, innezuhalten, das eigene Selbstverständnis kritisch zu betrachten … Ich bin nicht optimistisch, aber auch nicht resigniert. Wir überschauen nun einmal nicht alles, also kann ich nur vertreten, was ich für gut und richtig halte, ich kann nur meinen Anteil liefern und dabei immer offen bleiben und fragen, was ich übersehen oder nicht bedacht habe …
stö: Sie verankern die gestörte Mütterlichkeit in der christlich-abendländischen Kultur. Was ist mit der gestörten Väterlichkeit?
Die Mutter ist in der ersten Lebensphase am wichtigsten, dann wird sie vom Vater allmählich abgelöst – nämlich dann, wenn das Kind von der Mutter weg will. Das Thema Vaterlosigkeit und Vaterprobleme ist uns stärker präsent: zum Beispiel ist bekannt, dass autoritäre Verhältnisse mit gestörter Väterlichkeit zu tun haben. Die falsche Männlichkeit, die sich darin zeigt, dass Väter und Männer Kriege machen, dafür ihre Familien verlassen ... Das Fehlverhalten von Männern wird seit der 68-iger Bewegung vielfach dargestellt und diskutiert. Die Mütter blieben tabu oder sie werden verlogen verehrt (z.B. „Muttertag“) oder „Mütterlichkeit“ wird ganz und gar durch den Feminismus abgewertet. Für mich sind das Hinweise, dass es weitverbreitete und tiefreiche Störungen der Mutter-Kind-Beziehung gibt, von der eine große Mehrheit der Menschen betroffen sind.
Das Mutterbild ist ja im Christentum sehr verzerrt dargestellt, die Jungfrau Maria, die heilige Mutter … dieses falsche Mutterbild wird im „Lilith-Komplex“ [Hans-Joachim Maaz: „Der Lilith-Komplex. Die dunklen Seiten der Mütterlichkeit“, 2005] dargestellt. Bei jeder Frau ist die Mütterlichkeit auch begrenzt, weil sie Frau bleibt, Partnerin, weil sie berufliche Interessen hat. Der Umgang mit diesem unvermeidbaren Konflikt ist entscheidend.
Das Hauptproblem des Lilith-Komplexes ist eine verborgene kinderfeindliche Einstellung, die aber von den Frauen verleugnet wird. Daraus entsteht eine falsche Mütterlichkeit. Die Mutter sagt zum Beispiel: „Ich handle nur aus Liebe für dich“, aber das Kind kann diese Liebe nicht wahrnehmen. Es handelt sich dann um eine dem Kind falsch vermittelte Mütterlichkeit. Wenn eine Mutter dem Kind sagt: „Ich will jetzt nicht, ich muss jetzt etwas anderes tun, tut mir Leid!“, dann hat das Kind klare Verhältnisse, es kann sich beklagen, schimpfen oder weinen. Falsche Mütterlichkeit aber verwirrt das Kind. Das ist weit verbreitet. Viele Menschen, vor allem viele Männer, bleiben ja muttergebunden, bleiben in falscher Mutterverherrlichung, weil sie die Wahrheit mangelnder Liebe nicht erkennen, vor allem nicht erleiden wollen. Deshalb betonen sie ihre erworbene Stärke, um eine erfolgreiche Entwicklung zu beweisen und ihre Kindheit zu verklären. Ich bin davon überzeugt, dass auch die Bundeskanzlerin durch eine Mutterübertragung zur „mächtigsten Frau der Welt“ erklärt wird, die Männer „Beißhemmungen“ haben und sie mit Kritik geschont wird. Ein Bundeskanzler wäre vermutlich durch die Fehlentscheidungen in der Flüchtlingspolitik zum Rücktritt gezwungen worden, aber „Mutter Merkels“ Fehler werden als humanitäre Leistung gefeiert.
stö: Entstehen all diese Probleme nicht auch aus der bürgerlichen Kleinfamilie heraus, in der die Kinder nicht ausweichen können? Größere Familien mit mehr Beziehungsangeboten würden Mütter und Kinder entlasten …
Ja. Es ist eine Tragik für das Kind, wie sehr es den Eltern ausgeliefert ist mit all ihren Störungen und Konflikten. Ein Kind braucht eigentlich ein ganzes Dorf, um gesunde Beziehungen zu entwickeln. Daraus wird die Wichtigkeit der Elternschule deutlich, damit Eltern optimale Mütterlichkeit und Väterlichkeit entwickeln können.
stö: Lassen sich Ihre psychosozialen Überlegungen auf andere Kulturen übertragen? Z. B. auf die islamische? D. h. gibt es in Bezug auf Mütterlichkeit und Väterlichkeit interkulturelle Grundbedürfnisse?
Ja, unbedingt. Ich warte schon die ganze Zeit, dass endlich auch kritisch analysiert wird, wie die Verhältnisse in islamischen Familien aussehen, vor allem die Mutter-Kind-Beziehung. Mütterlichkeit und Väterlichkeit sind allgemeingültig, sie sind nicht reduzierbar. Natürlich gibt es Unterschiede, regionale, traditionelle, kulturelle …
Wenn wir vom islamistischen Terror sprechen, der sich offenbar auf zahlreiche Selbstmordattentäter stützen kann, so kann das nur bedeuten, dass es schwere Störungen in den Familien dieser Selbstmörder gibt und vor allem in der Beziehung zur Mutter. Kein normaler junger Mensch wäre sonst bereit, sich für irgendeinen Wahnsinn in die Luft zu sprengen. Wie gestört muss man sein, müssen diese Verhältnisse sein.
Daher rührt jetzt natürlich die berechtigte Sorge in Deutschland, dass sich eine islamische Kultur, die keinen Aufklärungsprozess wie das Christentum vollzogen hat, mit autoritären, patriarchalen Strukturen ausbreitet, dass die Mann-Freu-Gleichberechtigung, die Trennung von Politik und Religion, eine liberale Sexualmoral erneut verteidigt werden müssen. Ich habe unlängst einen Fernsehfilm gesehen, der zeigte, wie schlimm die Frauen noch in den 50er Jahren in Deutschland dran waren. Sie brauchten von ihren Männern eine Erlaubnis, um arbeiten zu dürfen. Der Umgang mit den Kindern war autoritär, die Verhältnisse sexualfeindlich … und jetzt kommen Menschen mit einem Familienbild, das wir mühevoll überwunden haben. Integration bedeutet in dieser Hinsicht nicht nur Deutschkurse und Arbeit, sondern kulturelle Zivilisation, Sexualerziehung, die Vermittlung moderner Beziehungskultur in Partnerschaft und Familie.
Damit sind wir schnell überfordert. Deshalb muss es zwingend eine Obergrenze geben, sonst wachsen uns die Konflikte über den Kopf, eben weil sie so schwierig sind. Dass das von vielen nicht gesehen wird, ist ein Symptom für falsche Vorstellungen von uns selbst. Viele Deutsche wollen heute besonders hilfreich und tugendhaft sein und überschätzen sich vielleicht, um auch Schuldgefühle aus unserer verbrecherischen Geschichte tilgen zu wollen.
stö: Sie erheben in diesem Zusammenhang auch politische Forderungen. Gibt es dazu Reaktionen aus der Politik?
Aus der Politik nicht. Sonst gibt es reichlich Rückmeldungen. Etwa neunzig Prozent sind sehr positiv – „Endlich sagt mal jemand, was ich auch denke, aber nicht wage, auszusprechen …“ – , zehn Prozent sind übelste Beschimpfungen.
stö: Sie halten Vorträge an vielen Orten Deutschlands – in Leipzig, in Dresden, in Naumburg … Halle scheint selten oder nicht dabei zu sein. Will man Sie hier nicht hören?
Das weiß ich nicht. Ich finde dafür keine besondere Erklärung. Zum Stiftungstag 2015 in Halle war der Ministerpräsident da, das haben wir sehr positiv erlebt, man war sehr interessiert an unserer Arbeit. Geld haben wir trotzdem nicht bekommen.
Ich bin hier in Halle mal im Gymnasium in einen Geschichtskurs eingeladen worden, als Zeitzeuge für die DDR und die Wendezeit. Die Schüler hatten die englische Ausgabe vom „Gefühlsstau“ [Hans-Joachim Maaz: „Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR“, 1990] gelesen. Sie waren gut informiert, vorbereitet, haben gute Fragen gestellt und wollten richtig was wissen.
stö: Wir hatten den Eindruck, dass Ihre Zuhörerschaft vorwiegend aus älteren Leuten bestehe. Gibt es aus Ihrer Sicht ein Desinteresse bei den jungen Leuten?
Ja, gibt es. Das Hauptpublikum ist um oder über 50. Deshalb war ich ja so überrascht über diese Erfahrung am Gymnasium. Das war richtig gut.
stö: Was können die Medien dazu beitragen, dass mehr Gewicht auf den Aspekt der Beziehungen gelegt wird?
Sie können das Thema annehmen. Beziehungskultur ist für mich DAS Gegengewicht zur Wachstumsideologie. Menschen, die mit sich, ihren Partnern und Freunden gut klarkommen, sind glücklicher als mit einem neuen Auto. Ich habe zunehmend den Eindruck, dass die Medien immer mehr einem Gebot von Political Correctness gehorchen, im einigen Bereichen jedenfalls. Sie schreiben nur das, was gesagt werden darf oder soll … Putin darf kein Freund sein, die AFD ist unsauber, mit der darf man nicht reden …
stö: Glauben Sie, dass der Wahlerfolg der AFD hier in Sachsen-Anhalt zu einer Öffnung des politischen Diskurses beitragen wird?
Das hängt von der AFD ab. Wenn man sich überlegt, dass wir hier jetzt von Parteien regiert werden, die in der Minderheit sind und dass die Partei, die die zweithöchste Stimmenanzahl hatte, gemieden wird, als hätte sie den Aussatz … Das ist schon kritisch für die Demokratie. Viel hängt von der AFD ab, ob sie es schafft, ein ordentliches Programm zu entwickeln.
stö: Wann wird ihr nächstes Buch erscheinen?
Bis August soll ich es fertig haben und dann entscheidet der Verlag, ob es als politisch aktuelles Buch noch in diesem Herbst erscheint – ich sage natürlich was über zur Flüchtlingsfrage, die aktuelle Politik und Pegida –, ansonsten kommt es im nächsten Frühjahr.
stö: Vielen Dank für das Gespräch.