LGBTIQ in Polen: Kein Platz in ‚unse­rer’ Union?

Die Ver­haf­tung der quee­ren Akti­vis­tin Mar­got in War­schau sorg­te 2020 welt­weit für Schlag­zei­len. Die Ver­ur­tei­lung der Gescheh­nis­se durch inter­na­tio­na­le Medi­en ist zwei­fels­oh­ne wich­tig und rich­tig. In der Bericht­erstat­tung domi­nie­ren jedoch ein­sei­ti­ge und ver­kürz­te Ana­ly­se­mus­ter. Die immer wie­der ange­führ­ten Ste­reo­ty­pe 'Kon­ser­va­tis­mus, Katho­li­zis­mus und Natio­na­lis­mus' rei­chen aber nicht aus, um die gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on für LGBTIQ-Per­so­nen in Ost­eu­ro­pa und spe­zi­ell in Polen zu erklären.

Auf­fäl­lig ist: West­li­che Medi­en reflek­tie­ren ihre eige­ne Per­spek­ti­ve auf die Gescheh­nis­se in Ost­eu­ro­pa kaum. Dabei könn­te eine selbst­kri­ti­sche Betrach­tung hel­fen, der Rhe­to­rik der pol­ni­schen Regie­rungs­par­tei entgegenzuwirken.

"LGBT-ideo­lo­gie­freie" Zonen

Die Ereig­nis­se des ver­gan­ge­nen Som­mers ste­hen in Zusam­men­hang mit der Ein­füh­rung so genann­ter „LGBT-ideo­lo­gie­frei­en Zonen“. Die­se machen mitt­ler­wei­le fast ein Drit­tel der pol­ni­schen Land­kar­te aus. Obgleich juris­tisch nicht durch­setz­bar, ist ihre sym­bo­li­sche Bedeu­tung offen­sicht­lich: In wei­ten Tei­len Polens ist die Stig­ma­ti­sie­rung von Men­schen auf­grund ihrer Sexua­li­tät oder geschlecht­li­chen Iden­ti­tät regierungskonform.

Kri­ti­sche wis­sen­schaft­li­che Stim­men aus den betrof­fe­nen Län­dern sind in west­eu­ro­päi­schen Gen­der-Dis­kur­sen noch immer unterrepräsentiert.

Im Sep­tem­ber reagier­te Ursu­la von der Ley­en dar­auf in ihrer Rede zur Lage der EU sehr deut­lich. Die Kom­mis­si­ons­chefin nann­te die Zonen 'mensch­lich­keits­frei'. Dafür gebe es kei­nen Platz in ‚unse­rer’ Union.(2) Obwohl von der Ley­en völ­lig zu Recht die Ver­nei­nung von LGBTIQ als unver­ein­bar mit euro­päi­schen Wer­ten beschrieb, bedien­te sie mit ihrer For­mu­lie­rung auch die Rhe­to­rik der regie­ren­den PiS-Par­tei (3), wonach die soge­nann­te Gen­der-Ideo­lo­gie aus dem Wes­ten impor­tiert sei und wenig mit pol­ni­schen Tra­di­tio­nen gemein hät­te. Äuße­run­gen wie die­se sind sym­pto­ma­tisch für einen in der Debat­te domi­nie­ren­den Blick von außen, wel­cher Rück­stän­dig­keit und Auf­hol­be­darf sug­ge­riert. Kein Wun­der: Kri­ti­sche wis­sen­schaft­li­che Stim­men aus den betrof­fe­nen Län­dern sind in west­eu­ro­päi­schen Gen­der-Dis­kur­sen noch immer unterrepräsentiert.

Zwei­fel an der Ver­gleich­bar­keit zwi­schen Femi­nis­men in Ost und West

Bereits 2003 kri­ti­sier­te die pol­ni­sche Femi­nis­tin und Wis­sen­schaft­le­rin Agnieszka Graff, dass wohl­mei­nen­de Besucher:innen aus dem Wes­ten’ die Exis­tenz femi­nis­ti­schen Enga­ge­ments in Polen nach wie vor anzwei­feln, da in Polen doch ‚alle so zutiefst kon­ser­va­tiv’ und ‚so sehr katho­lisch’ sei­en. Der Titel ihres Arti­kels „Lost bet­ween the waves“(3) deu­tet Zwei­fel an der Ver­gleich­bar­keit zwi­schen Femi­nis­men in Ost und West an. Der Begriff von Wel­len, der sich vor­nehm­lich auf die Chro­no­lo­gie der Frau­en­be­we­gung in den USA und West­eu­ro­pa bezieht, scheint in Polen nicht zu funk­tio­nie­ren. Ähn­li­ches ist in Bezug auf die Kate­go­rie Gen­der zu erken­nen, die neben der Stär­kung von Frau­en­rech­ten auch wei­te­re geschlecht­li­che und sexu­el­le Iden­ti­tä­ten einbezieht.

Im Kampf um Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit lie­fert ein Blick in die jün­ge­re pol­ni­sche Geschich­te Erklä­rungs­an­sät­ze, woher die­se kon­ser­va­ti­ven Res­sen­ti­ments stam­men.

Aktu­ell pral­len in Polen Wel­ten auf­ein­an­der. Auf der einen Sei­te kämpft eine Viel­zahl von Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen wie Mar­got und Agnieszka Graff für ein offe­nes und gen­der­freund­li­cher Polen. Dem gegen­über steht das gro­ße natio­nal­kon­ser­va­ti­ve Lager, in dem Tra­di­tio­nen hoch­ge­hal­ten und sich einer ver­meint­li­chen West­an­bin­dung bzw. Unter­wer­fung ver­wehrt wird. Im Kampf um Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit lie­fert ein Blick in die jün­ge­re pol­ni­sche Geschich­te Erklä­rungs­an­sät­ze, woher die­se kon­ser­va­ti­ven Res­sen­ti­ments stam­men. So wur­de mit dem sich abzeich­nen­den Ende des Kom­mu­nis­mus die Zeit der soge­nann­ten Trans­for­ma­ti­on in Polen ein­ge­lei­tet. Nach 1989 soll­ten kom­mu­nis­ti­sche Über­res­te ent­fernt und das Land demo­kra­ti­siert wer­den. In vie­len Berei­chen des öffent­li­chen und poli­ti­schen Lebens fand eine Ent­wer­tung der sozia­lis­ti­schen Ver­gan­gen­heit statt. So auch in Bezug auf Geschlechterfragen.

West­li­che Gen­der Stu­dies ohne ost­eu­ro­päi­sche Erfahrungen?

Exis­tie­ren­de Frau­en­rechts­be­we­gun­gen wur­den aus der kol­lek­ti­ven Erin­ne­rung Polens ver­drängt. Die­se haben im Kom­mu­nis­mus exis­tiert, waren auf­grund der offi­zi­ell fest­ge­schrie­be­nen Gleich­stel­lung der Geschlech­ter jedoch anders gela­gert als im Westen.(4) Statt des­sen wur­den Frau­en- und Geschlech­ter­stu­di­en an Uni­ver­si­tä­ten im ost­eu­ro­päi­schen Raum ab Mit­te der 1990er Jah­re eta­bliert. Viel­fach durch US-ame­ri­ka­ni­sche Geld­ge­ber ermög­licht, konn­ten ins­be­son­de­re Wissenschaftler:innen aus dem Wes­ten ihre Gen­der-Stu­dies-Exper­ti­sen in den ost­eu­ro­päi­schen Raum brin­gen. In der Fol­ge fehl­te es an ost­eu­ro­päi­schen Erfah­run­gen bei der inhalt­li­chen Aus­ge­stal­tung von Gen­der Stu­dies in Osteuropa.(5)

Femi­nis­ti­scher Auf­bruch in Lite­ra­tur, Kunst und Zivilgesellschaft

Seit den 2000ern ist in ost­eu­ro­päi­schen Län­dern eine Trend­wen­de zu erken­nen. Akti­vis­ti­sche wie wis­sen­schaft­li­che Arbei­ten wol­len die lan­des­ei­ge­nen Spe­zi­fi­ka in die Dis­kur­se brin­gen. In Polen wird im Sin­ne von her­sto­ry (6) ver­sucht, expli­zit weib­li­che Stim­men der pol­ni­schen Lite­ra­tur und Kul­tur in den offi­zi­el­len Kanon zu einzubringen.(7) Femi­nis­ti­sche Autorin­nen, wie unter ande­rem die Nobel­preis­trä­ge­rin Olga Tokar­c­zuk, ver­han­deln tra­di­tio­nel­le Rol­len­bil­der in ihren Roma­nen. An die­ser Stel­le sei ins­be­son­de­re auf Syl­wia Chut­nik Weibs­kram ver­wie­sen. Dar­in bricht die Autorin radi­kal mit der männ­li­chen domi­nier­ten Geschichts­er­zäh­lung Polens auf viel­fäl­ti­ge Wei­se und eröff­net alter­na­ti­ve Per­spek­ti­ven, die neben weib­li­chen auch quee­re Nar­ra­ti­ve ein­be­zieht. Für den pol­ni­schen Femi­nis­mus ele­men­tar war zudem die For­mie­rung des Czar­ny Pro­test (dt.: Schwar­zer Pro­test). Im Herbst 2016 demons­trier­ten Zehn­tau­sen­de erfolg­reich gegen die Ver­schär­fung des ohne­hin restrik­ti­ven Abtrei­bungs­ge­set­zes und erfuh­ren Soli­da­ri­tät bis weit über die Lan­des­gren­zen hin­aus. In vie­len Medi­en­be­rich­ten wur­de der Akti­vis­mus lobend zur Kennt­nis genom­men. Ein wohl­wol­len­der Unter­ton blieb, wonach sich nun end­lich auch Pol:innen dem femi­nis­ti­schen Kampf um Selbst­be­stim­mung ange­nom­men hät­ten. Viel­fach unbe­rück­sich­tigt blieb hin­ge­gen die Tat­sa­che, dass sich Pol:innen seit der Ein­füh­rung des bis heu­te gel­ten­den Gesetz­tes im Jahr 1993 auf poli­ti­scher, zivil­ge­sell­schaft­li­cher, wis­sen­schaft­li­cher wie künst­le­ri­scher Ebe­ne mit der Kri­mi­na­li­sie­rung von Schwan­ger­schafts­ab­brü­chen aus­ein­an­der­ge­setzt hatten.

Die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen in Polen sind weder hin­zu­neh­men noch zu entschuldigen

Die­se Bei­spie­le zei­gen, dass ost­eu­ro­päi­sche Per­spek­ti­ven kaum Ein­fluss auf die welt­wei­ten Debat­ten um Femi­nis­mus und Gen­der genom­men haben. Statt des­sen wird sich der west­eu­ro­päi­schen Vor­macht­stel­lung ver­ge­wis­sert, wie die Rede von der Ley­ens zeigt. Selbst­ver­ständ­lich dür­fen Men­schen weder auf­grund ihrer sexu­el­len Ori­en­tie­rung noch ihrer geschlecht­li­chen Iden­ti­tät dis­kri­mi­niert wer­den. Doch bleibt bei genau­er Betrach­tung der Gen­der-Geschich­te im öst­li­chen Euro­pa die Fra­ge offen, von wel­chen euro­päi­schen Wer­ten die Rede ist, wenn die Erfah­run­gen einer kom­plet­ten Regi­on mar­gi­na­li­siert wer­den. Die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen in Polen sind weder hin­zu­neh­men noch zu ent­schul­di­gen. Mit einem Para­dig­men­wech­sel der PiS ist nicht zu rech­nen. Doch bleibt zu hof­fen, dass durch die Ana­ly­se ihrer Macht­struk­tu­ren und die Unter­stüt­zung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Kräf­te die Spal­tung Euro­pas in Gen­der­fra­gen abge­mil­dert wer­den kann. Aktu­ell lei­den ins­be­son­de­re Betrof­fe­ne in Ost­eu­ro­pa und es bleibt frag­lich, ob sich dar­an etwas ändert, wenn sich (West-)Europa wei­ter als Ret­te­rin euro­päi­scher Wer­te insze­niert, ohne die­se reso­lut und dif­fe­ren­ziert zu verteidigen.

Lui­sa Klat­te stu­dier­te Inter­dis­zi­pli­nä­re Polen­stu­di­en in Hal­le. Ihre Polen­ex­per­ti­se wur­de ins­be­son­de­re durch län­ge­re Auf­ent­hal­te in Wro­claw und Poz­nan erwei­tert, wäh­rend derer sie Semi­na­re zu Gen­der Stu­dies und Femi­nis­mus beleg­te und in Kon­takt mit Akivist:innen vor Ort trat. Zur Zeit berei­tet Lui­sa Klat­te als Wis­sen­schaft­li­che Hilfs­kraft an der Uni­ver­si­tät Leip­zig ihre Pro­mo­ti­on zu Gerech­tig­keits­vor­stel­lun­gen in der pol­ni­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur vor.

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1 Bart­hels, Inga: „LGBT-freie Zonen haben kei­nen Platz in unse­rer Uni­on“ , in: Tages­spie­gel, 16.09.2020, ver­füg­bar unter: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/von-der-leyen-kritisiert-polen-lgbt-freie-zonen-haben-keinen-platz-in-unserer-union/26191400.html (04.10.2020).
2 Als PiS wird der Name der Par­tei Pra­wo i Spra­wi­ed­li­wość (dt: Recht und Gerech­tig­keit) abgekürzt.
3 Graff, Agnieszka: Lost bet­ween the Waves? The Para­do­xes ofFe­mi­nist Chro­no­lo­gy and Acti­vism in Con­tem­pora­ry Poland, in: Jour­nal of Inter­na­tio­nal Women's Stu­dies (4)2, 2003, S. 100-116, ver­füg­bar unter: https://vc.bridgew.edu/jiws/vol4/iss2/9/ (03.10.2020).
4 Wal­c­zew­s­ka, Sła­wo­mi­ra: Damen, Rit­ter und Femi­nis­tin­nen. Zum Frau­en­rechts­dis­kurs in Polen, Wies­ba­den 2015.
5 Zim­mer­mann, Sus­an: The Insti­tu­tio­na­liz­a­ti­on of Women’s and Gen­der Stu­dies in Hig­her Edu­ca­ti­on in Cen­tral and Eas­tern Euro­pe and the For­mer Soviet Uni­on: Asym­metric Poli­tics and the Regio­nal-Trans­na­tio­nal Con­fi­gu­ra­ti­on, in: East cen­tral Euro­pe. L'Europe du cent­re-est 34(1), 2007, S. 131-160.
6 Her­sto­ry beschreibt die Pra­xis einer femi­nis­ti­schen Geschichts­schrei­bung, bei der expli­zit his­to­ri­sche Frau­en­fi­gu­ren im Mit­tel­punkt der Erzäh­lung ste­hen oder aus einer weib­li­chen Per­spek­ti­ve erzählt wird.
7 Chowa­niec, Urszu­la; Phil­lips, Ursu­la (Hrsg.): Women's voices and femi­nism in Polish cul­tu­ral memo­ry, New­cast­le upon Tyne 2012.

 

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