Sechs Millionen Pflegekräfte fehlen laut WHO weltweit in Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen sowie in der ambulanten Pflege. Besonders dramatisch zeigt sich dieser Notstand in Afrika, Teilen Asiens und Lateinamerika. Doch auch im globalen Norden stehen die jetzt als „systemrelevant“ gelobten und beklatschten Pflegekräfte vor schwierigen Bedingungen, werden schlecht bezahlt und arbeiten in zu geringer Besetzung. Der Pflegenotstand trat lange vor der Corona-Krise zutage – angesichts einer Arbeit, die aufgrund der enormen psychischen und physischen Belastungen die Pflegenden nicht selten selbst krank macht.
Zeitdruck, Rationalisierung, Prekarisierung und Ausbeutung prägen den Pflegealltag. Die Folgen sind Dauerüberlastung oder gar Krankheit der Beschäftigten sowie vermehrte Teilzeitbeschäftigung und eine extreme Fluktuation in den Betrieben. In Deutschland ist es erst vor kurzem nach zähen Verhandlungen gelungen, einen verbindlichen Mindestlohn für die ambulante und stationäre (Alten-)Pflege zu vereinbaren. Das ist ein erster Erfolg, aber es bedarf weiterer, grundsätzlicher Veränderungen.
Wie groß die Herausforderungen sind, zeigt auch ein Blick auf Halle. Die Bertelsmann Stiftung prognostiziert hier bis zum Jahr 2030 einen Anstieg der Pflegebedürftigen um ein Drittel*. Gleichzeitig verringert sich im kommenden Jahrzehnt das zur Verfügung stehende Pflegepersonal (in Vollzeitstellen umgerechnet) deutlich um 12,3 Prozent. Das liegt zum einen daran, dass die Generation der „Baby-Boomer“ das pflegebedürftige Alter erreicht. Es liegt aber auch daran, dass die meisten Beschäftigten in Teilzeit arbeiten. Der ständige Personalaustausch ist für die Patient*innen, ganz besonders für jene mit Demenzerkrankungen, von erheblichem Nachteil, bedenkt man die enorme Bedeutung der emotionalen Arbeit in der Pflege. Doch tröstende Worte oder ein Schwätzchen – ganz zu schweigen vom Aufbau langfristiger Beziehungen zwischen Pflegenden und Gepflegten –, sind im Pflegealltag einfach nicht drin.´
Gute Pflege kann nur gelingen, wenn die Menschen, die diese übernehmen, auch gute Arbeitsbedingungen vorfinden. Am dringendsten brauchen die Pflegekräfte deutlich mehr Zeit für ihre Arbeit, einen angemessenen Patient*innenschlüssel für das Personal, der Überlastungen ausschließt, eine angemessene Bezahlung sowie eine strikte Reglementierung von Mehrarbeit für die Branche. Nicht nur werden oftmals wie selbstverständlich Überstunden mit dem Festlohn abgegolten, also unbezahlt geleistet oder Zuschläge für Feiertage verwehrt, viele Unternehmen versuchen auch mit illegalen Methoden die Sozialabgaben zu umgehen. Das zeigte ein Fall in Halle: Dort wurde eine Pflegedienstinhaberin verurteilt, weil sie ihre vorrangig aus Ost- und Südeuropa stammenden Arbeitnehmer*innen beschäftigte, ohne sie bei der Sozialversicherung anzumelden – für teils nur 40 Cent pro Stunde**.
Es geht auch anders: Das Beispiel „Buurtzorg“ aus den Niederlanden
Um die Pflege nachhaltig und menschenwürdig zu gestalten, benötigen wir neue Konzepte und Ansätze. Pflegebedürftige brauchen bessere und umfassendere Angebote, die sie unabhängig von ihrer finanziellen Situation beanspruchen können und die sich an ihren Bedürfnissen orientieren. Schon lange fordert die Gewerkschaft Verdi deshalb eine Pflegevollversicherung. Aber auch mehr Diversität in den Unternehmensstrukturen ist ein vielversprechender Ansatz, um die Qualität der Pflege zu verbessern.
Ein leuchtendes Beispiel für eine andere Pflegekultur ist in dieser Hinsicht das „Buurtzorg“-Konzept aus den Niederlanden, das inzwischen auch in Deutschland getestet wird. Unter dem Buurtzorg-Dach arbeiten mittlerweile 14 000 Beschäftigte. In kleinen Teams von höchstens zwölf Personen versorgen sie die Pflegebedürftigen in enger Abstimmung mit deren Bedürfnissen, ihrem familiären Umfeld und einem Netzwerk aus Ehrenamtlichen. Mit den Pflegekassen wurde ein alternatives Abrechnungsmodell entwickelt, so dass nicht der Minutentakt und damit feste Zeiten für einzelne Tätigkeiten zählen, sondern die Bedürfnisse der Patient*innen im Vordergrund stehen.
Auch hierzulande brauchen wir einen derartigen Strukturwandel: Anstelle von immer mehr Hedgefonds, die neben Krankenhäusern und Arztpraxen längst auch den Pflegesektor als profitables Geschäft entdeckt haben, gilt es verstärkt Unternehmensmodelle zu fördern, die von den Mitarbeiter*innen selbst getragen werden.
Mehr Menschlichkeit – weniger Bürokratie
Auch Nachbarschafts- oder Stadtteilnetzwerke, wie es sie in den Niederlanden gibt, sind in der Lage, die professionellen Pflegekräfte zu unterstützen. Hier könnten wir auch direkt an der in der Coronakrise sichtbar gewordenen Solidarität anknüpfen: Vielerorts kaufen Nachbarn für Ältere ein und fragen nach, ob sie Unterstützung benötigen. Die regionale Verankerung hätte zugleich einen positiven ökologischen Effekt.
Überdies sollte die Politik gemeinsam mit den Pflege- und Krankenkassen dafür sorgen, dass sich das Abrechnungssystem an den Bedürfnissen der Patient*innen orientiert. Denn das bestehende System ist nicht nur sehr zeitintensiv aufgrund bürokratischer Auflagen, sondern auch blind für die tatsächlichen Notwendigkeiten. Gerade die Zeit, die die Pflegenden mit den Patient*innen verbringen, ist für deren Gesundheit und Wohlbefinden extrem wertvoll. Sie darf deshalb nicht länger dem Spardruck zum Opfer fallen. Die Bedürfnisse der Patient*innen lassen sich nicht ökonomisieren und im Fünfminutentakt erfüllen, schon gar nicht, wenn es um die korrekte Gabe von Medikamenten geht.
Doch die Überforderung der Pflegekräfte geht nicht nur zu Lasten der zu pflegenden Menschen, sondern sie produziert letztlich auch neue Kund*innen. Unbezahlte Überstunden, Dauerbelastung und Fünfminutenpflege müssen daher schleunigst ein Ende haben. Denn eines sollte man sich bei all dem bewusst machen: Die Qualität einer jeden Gesellschaft misst sich vor allem daran, wie sie mit ihren hilfebedürftigen Mitgliedern umgeht – und mit jenen, die für diese sorgen. Die Organisation der Pflege ist daher von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung. Die Coronakrise offenbart nun einmal mehr die Notwendigkeit, unser Gesundheitssystem von Grund auf umzustrukturieren. Denn nur wenn kein permanenter Notstand herrscht, können wir Krisen in Zukunft besser bewältigen.
Jenny Weber, geb. 1989 in Halle, Politik- und Sozialwissenschaftlerin und freie Journalistin, arbeitete 2016 bis 2020 nebenberuflich in der Pflege. Der hier in einer gekürzten Variante abgedruckte Text erschien in den „Blättern für Internationale Politik“ , Heft 06/2020
*Pflegereport 2030 der Bertelsmann-Stiftung
**www.haeusliche-pflege.net, 11.11.2019.