Von Grünenwählern, nachhaltigen Familien und der eigentlichen unbequemen Wirklichkeit
Wenn Sie Kinder planen, kaufen Sie sich dann ein Auto? Sind Sie dann wirklich noch der 'gute Grünenwähler'?.
Ist Ihnen aber der Widerspruch zwischen eigenem Lebenstil, Sprüchen, politischen Begriffen, lobenswerten Zielen, so eines Idealismus die Umwelt zu retten und der nicht zu leugnenden Wirklichkeit bewusst.
Familien glauben oft, es geht nicht ohne Auto. Sie müssen nur Ihre Freundinnen und Freunde im Paulusviertel anschauen — ohne Auto geht es nicht.
Elternabend in der Schule. 500 Schüler, + ca. 700 bis 1.000 Elternteile. Draußen zählt man 30 Fahrräder. Die Schule ist wie eine mittelalterliche Burg im Belagerungszustand, aber hier ist die Burg mit Autos eingekreist. Idealismus contra Wirklichkeit.
Kinder unter 14, kostenlos mit der Bahn! Toll.
Ein Kind wird 14. Plötzlich voller Kartenpreis. Wo ist die Zwischenstufe für die Teenager? Gibt’s nicht.
Wenn Sie irgendwie bis dahin ohne Auto gelebt haben, berechnet Ihr Gehirn sofort die Fahrkosten für den 14jährigen Teenie und das 12Jährige Kind daneben.
Samstagmorgen sind Sie beim Autohändler.
Nein, das ist nur eine erfundene Fantasie, da Sie bestimmt schon vor Jahren ein Auto gekauft hatten, spätestens ein Jahr nach der Geburt des ersten Kindes. Weil nach einer Weile, das Schleppen von Kind, Babytrage, Lebensmittel, Getränke-Flaschen nervt. Das Auto entspannt.
Naja, vielleicht haben Sie inzwischen auch nur ein Sharing-Car benutzt, waren aber so, zumindest beim 'Verkehrsspiel', auf der untergeordneten Idealismus Stufe 2, und noch können Sie sagen: „Ich besitze kein Auto, bin eine gute Grüne.“
Aber dann haben Sie entdeckt, der Einkaufsausflug nach HEP dauerte länger als gedacht. Sie haben die Sharing-Zeit telefonisch verlängert. Beim drittem Verlängerungsversuch sagte die nette Computerstimme, Sie können nicht weiter verlängern, da es reserviert ist. 'Bitte mit Auto.' 'Weint nicht Kinder. Greif das, hol das ab. Ja, nachhaltiges, regenwaldfreundliches Eis muss warten. Ja, ich verstehe Eurer Plädoyer, aber wir müssen jetzt so los.“ Oh, wie erschöpfend.
So nun, Samstagmorgen, planen Sie einen schönen Familienausflug zum Autohändler. Im Verkehrsspiel haben Sie die im Idealismus untergeordnete Stufe 3 erreicht.
Doch in der Nacht von Freitag zu Samstag träumten Sie schlecht, über Kettensägen und gegossenen Beton, über tote Möwen am Strand und große Einkaufszentrumsparkplatzlandschaften bis zum Horizont.
Samstags hatten Sie stattdessen Tante Josephine in Dresden besucht. Schöner Tag. Tante lud noch zum Abendessen, kurzer Blick auf den Fahrplan, letzter Zug um 22:00 Uhr, das Kind war ruhig, in Ordnung ‚Ich bleibe noch. Danke Tante.’
Sie stiegen mit dem Kind in den Zug ein. Der Schaffner kam: „Halle? Steigen Sie in Riesa in den Ersatzverkehr um.“ Riesa nach Halle per Bus, über Landstraßen, durch jede kleine Straße eines jeden kleinen Dorfes—eine horizontale Achterbahn. Der Windel-Wechsel war eine Rock' und Roll' Olympiade auf dem Nachbar-Sitzplatz. Ankunft in der Früh in Halle um 3:20.
Sonntagnachmittag, mit Campingzelt unter dem Arm verabschiedeten Sie das Kind, Ihren grünen Partner und bauten das Zelt vor der Tür des Autohändlers auf. Mit Kaffee in der Thermoskanne und lauschigem Schlafsack schliefen Sie gut.
Am nächsten Tag, den Autoschlüssel in der Hand. Gratulation, Sie haben es tatsächlich getan. Im Verkehrsspiel haben Sie die im Idealismus untergeordnete Stufe 4 erreicht.
...
Immer Freitags wachen Sie mitten in der Nacht auf und auf Zehenspitzen gehen Sie ins Wohnzimmer, schauen dann Soylent Green, The Day After Tomorrow, Waterworld — Sie bauen eine geheime Katastrophenfilm Videothek auf. Sie schreiben Fanpost an Roland Emmerich. Hinter dem Sofa liegt ein Fluchtrucksack.
Sie sind Mitglied von Anonymen Katastrophlern' geworden. Sie erzählen Freundinnen, dass Untergangsporno [englisch: Doom Porn] nicht zum Lachen sind. Sie lernten die Apokalypse des Heiligen Johannes auswendig. Sie flüsterten sie in die Ohren der Kindern, wenn sie einschlafen. Sie fühlen sich schuldig, aber wollen, dass die Kinder emotional vorbereitet werden.
Im Auto fahren Sie mit den Kindern und Freunden zur einer Klimakonferenz nach Hannover. Am Abend sind Sie unterwegs nach Ostfriesland für eine Rettet-die-Ozeane Demonstration.
Ihre mathematischen Fähigkeiten sind wirklich gut geworden, Sie können komplizierte Rechnungen im Kopf berechnen, eine Fähigkeit mit der Sie sich sofort für einen Studienplatz an der Technischen Universität Berlin bewerben könnten.
Als Sie durch das Nachtdunkel nach Ostfriesland fahren und während Ihre Kinder und Ihr Mitkämpfer schlafen, brauchen Sie kein Koffein um wach zu bleiben. Ihr Körper verbrennt Gehirnkalorien in großer Menge, als Sie den Kohlendioxidverbrauch eines mit vier Erwachsenen und zwei Kindern besetzten Autos ins Verhältnis setzen zu den Kohlenstoffemissionen des Bahnnetzes und Ihren anderthalb Quadratmeter, die Sie im Zug nutzen; für das Auto berechnen Sie die verbrauchten Lebensmittel-Kalorien hinzu, die Sie benutzen um die gesamte Kalkulation im Kopf zu erledigen, da im Zug Sie einfach ohne Schuld hätten schlafen können.
Am nächsten Abend nach der Demonstration berechnen Sie auf dem Weg zurück nach Halle die Mautkosten, wenn die CDU und ihr Autobahnprivatisierungsversuch erfolgreich wird. Sie fragen sich, ob man die CDU stattdessen privatisieren sollte, und ob die CDU vielleicht die Chefs von BMV, VW, Mercedes und Ford einfach in höchste Ränge auf die Parteiliste eintragen könnten. Man würde somit auf jeden Fall die Energie für einen klar formulierten Widerstand aufsparen und nutzen können, welche größtenteils bisher für die Aufklärung intransparenter Machenschaften der Parteiapparatschikzwischenhändler verschwendet wurde.
In Halle begrüßen Sie noch Ihre Freunde, wünschen eine gute Nacht, tragen die Kinder ins Bett, flüstern den Heiligen Johannes in die Ohren und klettern ins eigene Bett neben den schönen, warmen Partner.
Bevor Sie einschlafen, berechnen Sie wieviel co2-Ausstoß Sie mit Ihrer gemeinsamen Wärme unter einer Decke sparen.
Am Morgen wachen Sie auf. Sie sind allein im Bett. Das ältere Kind ist schon in der Kita. Das jüngere spielt auf dem Teppich im Wohnzimmer.
Frühstück und warmer Kaffee stehen auf dem Tisch in der Küche. Ihr Mann sitzt da, sie lächeln beide. Das Leben ist gut.
Sie schalten den Laptop an. Schlängelnder Dampf steigt aus dem Kaffee, es duftet in der ganzen Küche. Das Bio-Ei und Bio-Brot und die Bio-Marmelade sind lecker. Das Leben ist schön.
Sie tippen in den Browser ein. Sie lesen. Die Linke will eine Gebühr für öffentlichen Verkehr auf alle Personen einführen. 20 Euro pro Person pro Monat. Jeden Monat 20 Euro pro Person. Die Linke erläutert stolz, wie die Finanzierung des städtischen Nahverkehrs gesichert wird. Alle Leute können den Vorteil des öffentlichen Verkehrs und der Züge genießen. Leute müssen nicht mehr ein Auto besitzen oder fahren. Es wäre besonders günstig für Familien, erklärt die Linke.
Sie berechnen die jährlichen Kosten und die zusätzlichen Zugkosten, wenn Sie Ihr Auto abgeben, dazu den CO2-Ausstoß aus Ihrem Mund, wenn Sie die Getränkekisten schleppen und Sie denken an die Freude, die der Bahn-Ersatzverkehr bietet. Sie rechnen Grün. Sie rechnen Gelb. Sie rechnen Rot. Egal mit wem, mit halbherzigen Konzepten bleibt es schwarz, sehr schwarz.
Am nächsten Morgen wachen Sie auf. Sie sind allein im Bett.
Frühstück und warmer Kaffee stehen auf dem Küchentisch. Sie sehen Ihren Partner und Ihre Kinder im grünem Hinterhof spielen. Sie lächeln. Das Leben ist gut.
Sie schalten Ihr Laptop an. Das Bio-Ei und das Bio-Brot und die Bio-Marmelade sind lecker.
Sie tippen ein. Sie lesen: ‚Gestern Abend wurde der Linkenladen mutwillig mit geworfenen schwarzen und roten Farbballons an Fenster und Fassade beschädigt. Verdächtigt sind radikale Extremisten oder sogar Umweltaktivisten, denen der Umgang der Linken mit der Natur wohl gar nicht schmeckt.’
Sie lächeln ein Mona Lisa Lächeln. Der Dampf steigt aus dem Kaffee. Der Kaffee duftet in der Küche. Sie schauen auf die Kinder. Sie nippen Ihren Kaffee. Im Verkehrsspiel haben Sie die im Idealismus untergeordnete Stufe Bodenhöhe, Realität, erreicht.
Das Leben ist gut.
Ökologischer Idealismus hin oder her, ist meist nur unreflektiertes nachbeten des offiziellen Jargons, schlimmer ist die lebensbedrohliche Mischung aus selbstgerechtem Au(to)tismus, Bequemlichkeit und Desorganisiertheit.
Was ich meine? Jeden Schultag zwischen 7.10 und 7.30 im Paulusviertel zu „bewundern“. Rücksicht- und Verantwortungslosigkeit werden mit Notwendigkeiten kaschiert. Wer glaubt, er wohne in einem besseren Viertel, belügt sich selbst. Hauptsache ich.
Ihr Herr Schierling
P.s.: klasse Artikel