Wen­de­fo­kus geht online

Über 100 sub­jek­ti­ve Erin­ne­run­gen. Mit dem "Wen­de­fo­kus" geht eine ein­zig­ar­ti­ge Gesprächs­rei­he zum Leben in der DDR und dem Jahr 1989 in Hal­le online.

Audio­bei­spiel: Rein­hard Nemson/ Hoch­schul­leh­rer, vor 1989 am Erzie­hungs­wis­sen­schaft­li­chen Insti­tut der MLU.

Wolf­ram Föh­se flog von einer Spe­zi­al­schu­le wegen "Wehr­la­ger­ver­wei­ge­rung und Kon­fir­ma­ti­on". Die Künst­le­rin Ulli Hamers grün­de­te in Hal­le eine Woh­nungs­be­set­zungs­zen­tra­le, in der Inter­es­sier­te Hin­wei­se erhiel­ten, wie sie in leer­ste­hen­de Häu­ser ein­zie­hen könn­ten. Beim Punk Tors­ten Hahn­el for­mier­te sich eine stark distan­zier­te Hal­tung zum Staat, die durch das restrik­ti­ve Auf­tre­ten der staat­li­chen Reprä­sen­tan­ten noch radi­ka­li­siert wur­de. Götz Rubisch sen­de­te Mit­te der 70er Jah­re kurz­zei­tig in Hal­le Pira­ten­ra­dio: Nicht ohne Kon­se­quen­zen. Alles war "zu preu­ßisch, zu mili­ta­ris­tisch und hat­te mit mei­ner Idee des Sozia­lis­mus nichts zu tun", sagt Jens-Paul Wol­len­berg, der von einem guten Dut­zend Sta­si-Mit­ar­bei­ter bespit­zelt wur­de. Lothar Rochau, der über einen ande­ren, bes­se­ren Sozia­lis­mus "mit mensch­li­chem Ant­litz" ohne auto­ri­tä­re Vor­schrif­ten in Hal­le-Neu­stadt dis­ku­tie­ren ließ, wur­de kri­mi­na­li­siert, vor dem obers­ten Gericht der DDR ange­klagt, ver­ur­teilt, ins Zucht­haus ver­frach­tet und 1983 gegen sei­nen Wil­len aus der DDR zwangs­ab­ge­scho­ben: "Mir war zum Heu­len und ich fühl­te mich beschis­sen." Diet­mar Niko­lai Webel wur­de wegen Staats­ver­leum­dung inhaf­tiert. Frie­de­mann Rösel, der 1981 ver­haf­tet und zu zwei­ein­halb Jah­ren Haft ver­ur­teilt wur­de, hält auch heu­te noch am Mar­xis­mus fest.

Seit über drei Mona­ten fragt das freie Radio in Hal­le, Radio Corax, in zumeist sehr per­sön­li­chen Gesprä­chen nach der Lebens­si­tua­ti­on und der Vor­stel­lung von not­wen­di­ger Ver­än­de­rung der Ver­hält­nis­se in der DDR. Seit dem 7. Okto­ber sind die über 100 aus­führ­li­chen Inter­views im Inter­net unter www.wendefokus.de nach­zu­hö­ren. Ergänzt wer­den die Gesprä­che durch Ana­ly­sen und Hin­ter­grund­be­rich­te. Mit der Ein­rich­tung des Online-Archivs ent­steht eine dif­fe­ren­zier­te und reich­hal­ti­ge Quel­le, die vor allem auf die Ereig­nis­se um das Jahr 1989 in Hal­le blickt. Hans-Joa­chim Maaz bezeich­net die Mona­te um 1989 als "Wahn­sinn", als unbe­greif­lich. Etwas sei gesche­hen, was bis heu­te nicht rich­tig erfasst wer­den kann. Dore Rich­ter, die nach meh­re­ren Ver­hö­ren der Sta­si kei­ner Arbeit nach­ge­hen konn­te, "hat­te nie gedacht, dass sich was ändert". Tho­mas Kup­fer beschreibt die Zeit als eine "gran­dio­se": "Die Erfah­rung eines – auch noch weit­ge­hend gewalt­frei her­vor­ge­ru­fe­nen – Umbruchs kann ich nur jedem wün­schen. Das soll­te viel häu­fi­ger pas­sie­ren." Der Kri­mi­nal­po­li­zist Ste­fan Schlei­cher hat jede Mon­tags­de­mo mit­ge­macht - "natür­lich auf der ande­ren Sei­te". 1989 war "die bes­te Zeit" im Leben Chris Lopat­tas, der "für einen bes­se­ren Sozia­lis­mus" demons­trier­te. Für Han­na Haupt war es eine "lus­ti­ge Revo­lu­ti­on, in der tags­über gear­bei­tet und abends Revo­lu­ti­on gemacht wur­de". Alex Peh­le­mann erleb­te die Ereig­nis­se per­sön­lich als "Zusam­men­bruch und Implo­si­on". Gesell­schafts­po­li­tisch nennt er es eine "demo­kra­ti­sche Konterrevolution".

Wul­ff Brand­stät­ter, "Spe­zia­list der Plat­ten­bau­wei­se", nennt sie einen "Auf­bruch in eine neue Zeit, in der Erwar­tun­gen erfüllt und ent­täuscht wur­den". Der Foto­graf Very Barth erin­nert sich: "Es muss­te etwas grund­sätz­lich ver­än­dert wer­den" in einem Land, in dem "der Mei­nungs­streit abhan­den" gekom­men war. Zum Unmut der (Unter-) Offi­zie­re war Ralf Stein­hau­sen, in einer "sur­rea­len Zeit", an der Grün­dung von Sol­da­ten­rä­ten betei­ligt. Dirk Stol­zen­hain fer­tig­te früh kon­spi­ra­tiv Abschrif­ten der Auf­ru­fe des Neu­en Forums an, wur­de ver­hört und saß im Okto­ber 1989 in U-Haft. Jan Wät­zold war "sau­er über die­je­ni­gen, die die Wen­de ange­kur­belt haben" und fühl­te sich wenig spä­ter - für einen kur­zen Moment - "im Para­dies". Sabi­ne Wolff beschreibt eine Wen­de in der Wen­de: Das Über­rannt­wer­den derer, die für einen ande­ren Sozia­lis­mus über Jah­re Repres­sio­nen in Kauf genom­men haben. Win­fried Rad­zie­jew­ski erschrak am Run­den Tisch in Hal­le vor dem dort ein­keh­ren­den "kon­ser­va­tiv-auto­ri­tä­ren" Geist. Uwe Lar­sen Röver sieht den "Ver­such einer demo­kra­ti­schen Revo­lu­ti­on, der durch die Schnel­lig­keit der Ereig­nis­se geschei­tert" sei. Eva Maria Scherf lei­te­te den uni­ver­si­tä­ren Film­klub, wo vie­le "pro­ble­ma­ti­sche" Fil­me zu sehen waren und bezeich­net die soge­nann­te "Wen­de" eher als "Anschluss, nicht als Revolution".

Zeit­zeu­gen und Zeit­zeu­g­in­nen berich­ten über das Jahr 1989, erzäh­len, wie sie die Zeit zwi­schen Mau­er­fall und "Wie­der­ver­ei­ni­gung" erlebt haben. Sie erzäh­len von Bür­gern, für die die alten Geset­ze nicht mehr und die neu­en noch nicht gal­ten, von Frei­räu­men, die auch wie­der ver­lo­ren gegan­gen sind, vom Geist eines refor­mier­ba­ren DDR-Sozia­lis­mus, von der Kluft zwi­schen indi­vi­du­el­ler Erfah­rung und kol­lek­ti­ver Erin­ne­rung an die Zeit. Neben heu­te bekann­ten Per­sön­lich­kei­ten Hal­les (Wil­helm Bartsch, Hei­di Boh­ley, Bern­hard Böh­nisch, Peter Brock, Gün­ter Buchen­au, Karam­ba Dia­by, Rüdi­ger Fik­ent­scher, Moritz Göt­ze, André Gurs­ky, Ingrid Häuß­ler, Peter Jeschke, Chris­toph Rack­witz, Lothar Rochau, Wolf­gang Schus­ter, Ralf-Tors­ten Spe­ler, Mat­thi­as Waschitsch­ka, Sabi­ne Wolff, Tom Wol­ter) fin­den auch Per­so­nen Gehör, die sonst wenig zu Wort kom­men und den­noch eini­ges zu erzäh­len haben. Mau­er und Gren­zen der DDR emp­fand Lars Jung als "nor­mal" und sah Mög­lich­kei­ten, mit Argu­men­ten gegen "die Idio­ten und Beton­köp­fe, die schnell an die Macht kamen" zu dis­ku­tie­ren: "Ich dach­te, die DDR ist mit Intel­li­genz zu ret­ten." Dr. Tho­mas Drzis­ga, der "bei wei­tem kein Oppo­si­tio­nel­ler war", erleb­te die "Ago­nie des Appa­rats von innen" - man habe sich dort "das Den­ken selbst ver­bo­ten". Chris­ti­an Feigl flüch­te­te auf aben­teu­er­li­chen Wegen aus der DDR, um weni­ge Mona­te spä­ter wie­der in die­se zurück­zu­keh­ren. Tom Wol­ter beweg­te sich in einer "kul­ti­vier­ten Nische" und fühl­te sich "auch im Gefäng­nis frei". Petra Sit­te berich­tet über Feh­ler einer staats­treu­en jun­gen Erwach­se­nen. Ralf Wendt erleb­te immer wie­der, dass die DDR zwar ein sta­ti­sches Sys­tem war, dass in die­sem aber auch Dis­kus­sio­nen mög­lich waren, die ihm Hoff­nung auf eine eman­zi­pa­to­ri­sche Gesell­schaft mach­ten. Jan Wei­en trat eine Stel­lung am Lehr­stuhl für Geschich­te sozia­lis­ti­scher Uto­pien an der Uni Leip­zig an und war wenig spä­ter in den Berei­chen Ver­trieb, Mar­ke­ting und Wei­ter­bil­dung tätig. Die DDR sei ein Ver­such gewe­sen, bei dem es sich lohnt auf das Schei­tern zu sehen, gera­de weil das Bestehen­de, der Kapi­ta­lis­mus, kei­ne Zukunft haben wer­de, meint Dani­el Herr­mann (Direk­tor der Werk­leitz Gesellschaft).

www.wendefokus.de
Ein Pro­jekt von Radio Corax.

 

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