Schon Kaiser Qin ließ im dritten Jahrhundert v. Chr. missliebige konfuzianische Texte verbrennen. Mit dem Aufkommen des Internets und der sozialen Medien können nun mehr als 1,3 Milliarden Chinesen ihre ganz individuellen Ansichten veröffentlichen, was erheblich schwerer zu kontrollieren ist.
Als Reaktion darauf hat die Zentralregierung massive Zensur- und Manipulationsstrukturen geschaffen. Vorgeschaltet sind hunderttausende echter Zensoren, die in zwei Richtungen arbeiten: einmal lesen sie flächendeckend Social-Media-Postings und entscheiden, welche zu löschen sind. Andere Zensoren durchforsten die bereits in automatisierten Keyword-Filtern hängengebliebenen Postings und entscheiden, welche doch noch publiziert werden können.
Die 50-Cent-Partei hat immer recht
Da die Bürger nur selten das schreiben, was Partei und Regierung lesen möchten, kommen in einem dritten Schritt noch etwa zwei Millionen professionelle Texter staatsnaher Postings hinzu. In Chinas sozialen Medien sind diese als "50-Cent-Partei" bekannt. Der Name entstand, weil man vermutete, dass die Schreiberlinge 50 Cent (50 Feng) pro Beitrag bezahlt bekämen. Ist aber nicht so: King, Pan und Roberts fanden heraus, dass die Poster regulär bezahlte Staatsangestellte sind, den vermuteten Stücklohn von 50 Cent gibt es nicht. Die Autoren schätzen, dass die Regierung über 448 Millionen Social-Media-Kommentare pro Jahr produzieren lässt.
Rechenschafts-Mails geleakt
Datenbasis der statistischen Auswertung war ein Konvolut geleakter E-Mails aus dem Propaganda-Büro des Stadtbezirks Zhanggong der Stadt Ganzhou in der Provinz Jiangxi. Das Archiv enthielt Daten vieler 50-Cent-Poster, die Links und Screenshots ihrer Beiträge an die Zentrale sandten, als Beweise für ihre gute Arbeit.
Durch diese Beiträge waren die Forscher in der Lage, die Postings über viele Social-Media-Konten hinweg zu verfolgen und zu entdecken, wer die Poster sind und worüber sie schrieben. Zweitens und noch wichtiger ist die inhaltliche Analyse: kontroverse Diskussionen fehlen fast völlig. Es wird weitgehend vermieden, auf die Argumente von Kritikern und Skeptikern einzugehen, kontroverse Themen werden konsequent beschwiegen. Das Ziel der bezahlten Beiträge ist, die Öffentlichkeit systematisch abzulenken und das Thema zu wechseln. Die Anstrengungen gehen dahin, Aufmerksamkeit umzulenken, vor allem, um die Menschen von der Organisation kollektiver Aktionen abzuhalten. Die Ablenkungskampagnen fokussieren sich auf Zeiten und Orte, an denen kollektive Aktionen stattfinden könnten, Protestmärsche geplant werden oder Aktionen zivilen Ungehorsams sich zuspitzen könnten.
Autoritäre lenken ab statt zu argumentieren
Die Autoren schreiben: "Ablenkung ist eine geschickte und nützliche Strategie in der Informationssteuerung, denn ein Argument fordert in fast jeder menschlichen Diskussion ein Gegenargument heraus. Ein Argument zu ignorieren oder das Thema zu wechseln funktioniert in der Regel viel besser als das Sammeln von Gegenargumenten und das Finden von Unterstützern dafür. ... Die meisten dieser Beiträge sind Cheerleading für China, die revolutionäre Geschichte der Kommunistischen Partei oder andere Symbole des Regimes."
Aus dem ursprünglichen Konvolut konnten die Forscher ein statistisches Profil von typischen 50-Cent-Postern gewinnen, was ihnen erlaubte, viele andere wahrscheinliche 50-Cent-Poster zu identifizieren, die nicht im ursprünglichen Datenmaterial enthalten waren.
Cheerleader befragt
Die Forscher legten unter Pseudonymen eine Vielzahl von Social-Media-Konten an. Freiwillige im ganzen Land wurden gewonnen und methodisch geschult. Die Umfrage wurde über "direct messaging" auf Sina Weibo durchgeführt. Von ihren Fake-Konten sandten die Forscher und Freiwilligen Direktnachrichten an Leute, von denen sie glaubten, es seien 50-Cent-Poster. Sie fragten an:
Ich sah Ihren Kommentar, er ist wirklich inspirierend. Ich möchte fragen, ob Sie ein Manager zur Anleitung der öffentlichen Meinung sind oder sonstige Erfahrungen in der Online-Kommunikation haben?
Die Frage ist positiv formuliert, sie verwendet den offiziellen Begriff "öffentliche Meinung" und nicht den Begriff 50-Cent, der negativ konnotiert ist. Erstaunlicherweise outeten sich 59% der Angefragten selbst als 50-Cent-Poster. Als Validierungmethode stellten die Forscher die gleiche Frage an Leute aus dem originalen Datensatz, von denen sie sicher wussten, dass sie aktuelle 50-Cent-Poster sind. Als zweites fragen sie dasselbe Menschen, von denen sehr unwahrscheinlich war, dass sie 50-Cent-Poster waren. Das Ergebnis war, dass 57% der bekannten 50-Cent-Poster die Frage mit ja beantworten. Also fast der gleiche Prozentsatz (59%) wie in der vorherigen 50-Cent-Probe. Gleichzeitig antworteten nur 19% der Poster mit ja, von denen bekannt war, dass sie keine 50-Cent-Poster waren. (Das heißt nicht, dass 19% 50-Cent-Poster waren, vielmehr sind die 19% die Größenordnung des statistischen Rauschens bei der Beantwortung der Frage, etwa durch Witzbolde). Wichtig ist, dass die große 40-Prozent-Differenz eine sichere statistische Grundlage für die Unterscheidung zwischen 50-Cent-Postern und Normalbürgern liefert.
Sehr meta. Sehr mutig.
Mit dieser Analyse und einer sorgfältig dokumentierten Abschätzung konnten die Forscher weitere quantitative Aussagen über die 50-Cent-Partei machen: besagte 448 Millionen Social-Media-Beiträge pro Jahr. Ungefähr 52.7% dieser Postings erscheinen auf Regierungssites. Die restlichen 212 Millionen Postings gehen in den Strom der etwa 80 Milliarden Beiträge auf kommerziellen Social-Media-Websites ein, alles in Echtzeit. Ein großer Teil der Kommentare auf staatlichen Webseiten wird also von der Regierung selbst geschrieben. Auf kommerziellen sozialen Medien wird etwa jedes 178-ste Posting von Regierungs-Angestellten erstellt.
Als dann eine frühe Version der Arbeit geleakt wurde, reagierte die Zentralregierung und ließ die Forscher von der chinesischen Stasi überwachen, ein veritabeler Geheimdienst-Thriller entwickelte sich. Auch dieses Regierungshandeln wird in der Arbeit dokumentiert.
Sehr meta. Sehr mutig, urteilt Marginal Revolution. Einige der Autoren haben jetzt allerdings Einreiseverbote für China. Das Thema "Informationskontrolle in autoritären Regimen" wird uns noch lange beschäftigen müssen.
Gary King, Jennifer Pan, Margaret E. Roberts. “How the Chinese Government Fabricates Social Media Posts for Strategic Distraction, not Engaged Argument.” American Political Science Review, 1/2017.
Gary King, Jennifer Pan, Margaret E. Roberts. "Reverse-engineering censorship in China: Randomized experimentation and participant observation." in: Science 22. Aug. 2014: Vol. 345, Issue 6199.
Autoritäre lenken ab statt zu argumentieren auf
Beitragsbild ist eine Wörterwolke des Beitrags von Wordle