Ehrenamtliche soziokulturelle Projekte haben es schwer in Halle. Das Hasi hat seinen Mietvertrag verloren und soll wohl an den Stadtrand verdrängt werden. Das traditionsreiche La Bim am Töpferplan muss räumen und findet kein neues Quartier.
Der Stadtgarten Glaucha des Postkult-Vereins muss gehen, weil die Eigentümer dort selbst bauen wollen. Die Freunde der Stadtbibliothek müssen ausziehen, weil der Eigentümer mit anderen Nutzungen mehr Geld verdienen will. Die Rockstation ist nun schon fast ein Jahr obdachlos, dem Rockpool geht es auch nicht gut. Obwohl es strukturell eine linke Mehrheit im Stadtrat gibt, wird von der Stadtverwaltung eine stramm wirtschaftsliberale Immobilienpolitik gemacht, von und mit zweifelhaften Beratern und elitären Kungelrunden.
Die Gentrifizierung bzw. Gentrifikation hat Halle erreicht - per Definition der sozioökonomische Strukturwandel bestimmter großstädtischer Viertel im Sinne einer Attraktivitätssteigerung für eine neue Klientel und dem anschließenden Zuzug zahlungskräftiger Eigentümer und Mieter. Gleichzeitig werden weniger zahlungskräftige Einwohner und soziokulturelle Aktivitäten in die Randbezirke verdrängt.
Widerstand dagegen regt sich vor allem unter der Überschrift "Recht auf Stadt". Doch wie wäre dieses Recht zu begründen und durchzusetzen? In einer computeraffinen Umgebung bekommt man auf derart offene Fragen gerne eine Abkürzung zur Antwort: RTFM!
Lies das verfluchte Handbuch!
Dieses Handbuch gibt es: Henri Lefebvres Grundlagenwerk "Das Recht auf Stadt" ist Mitte 2016 endlich in deutscher Übersetzung erschienen. Den träumenden und protestierenden Pariser Studenten von 1968 lieferte der Essay die theoretische Grundlage. Der Stadtsoziologe Henri Lefebvre (1901−1991) war bereits 1958 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden. In der Folge entwickelte er die raum- und zeitbezogene Theorie einer urbanen Revolution außerhalb von Partei, Gewerkschaft und Arbeiterklasse.
1968 war auch das Jahr des Einmarschs des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, was es den rebellischen Studenten unmöglich machte, in irgend einer Weise "moskautreu" zu sein. In diese Lücke sprang nun die "Situationistische Internationale" mit ihrem Vordenker Lefebvre. Der Meister arbeitete inzwischen führend beim französischen Kulturradio, hatte enge Kontakte mit diversen Künstlergruppen und Autoren, die Lefebvres Theorie der Momente aufnahmen und gemeinsam eine utopische "Architektur der Situation" entwickelten.
Die utopische Stadt New Babylon hieß zunächst Dériville - Umherschweifstadt. Die Situationisten definierten ihren Urbanismus, erfanden das Umherschweifen als Kunst und Wissenschaft. Was im deutschsprachigen Raum die Entstehung eines neuen Hochschulfaches anregte: die Spaziergangswissenschaft, Promenadologie oder englisch "Strollology". Die treudeutsche Spaziergangswissenschaft forscht und lehrt heute zumeist auf Englisch. In Frankreich wurden die Proteste von 1968 eingehegt, grundlegende Reformen fanden nicht statt, wenigstens wurden die Mindestlöhne der Arbeiter erhöht. Die Situationisten lösten sich 1972 auf, ihre an den Surrealismus angelehnte Malerei lebte weiter, die verspielten Stadtentwürfe und situationistischen Schriften vermehrten sich fleißig.
Eine zweite Welle der Lefebvre-Ideen schwappte nach der politischen Wende in Osteuropa von Frankreich aus in Richtung Westen. 1991 wurde Lefebvres "La production de l'espace" ins Englische übersetzt. Die Wiederentdeckung des Raums als Kategorie des Denkens regte auf verschlungene Weise die Occupy-Bewegung an. Occupy Wallstreet wurde noch brutal niedergeschlagen. Das blitzmoderne Occupy Gezi vernetzte kreativ die Kämpfe der einzelnen Viertel in Istanbul - unter dem Slogan "Recht auf Stadt". Die hierbei entwickelte "revolutionäre Praxis" wurde migrantisch grundiert besonders im Hamburger Gängeviertel rezipiert, wie Christoph Schäfer in seinem Vorwort zu "Das Recht auf Stadt" anschaulich schildert.
Occupy Rauschenbach-City!
Heute gibt es kaum einen städtischen Protest, der nicht auf die Parole „Recht auf die Stadt“ zurückgreift, stellt der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm fest. Gemeint ist ein Recht auf Zentralität und Teilhabe an den Qualitäten und Leistungen der urbanisierten Gesellschaft, ein Recht auf kollektive Wiederaneignung des städtischen Raums durch buchstäblich an den Rand gedrängte Gruppen. Lefebvre kritisierte die fordistische Stadt der klassischen Moderne. Heute haben wir es mit der „neoliberalen" Stadt zu tun, die mit neuen Produktionsweisen die Produzierenden vereinzelt, gegeneinander ausspielt und neue Ausschlüsse produziert.
"Für die dauerhaft ökonomisch Ausgeschlossenen oder die aus gentrifizierten Innenstädten verdrängten Bewohner, aber auch für die wachsende Zahl der von restriktiver Einwanderungspolitik betroffenen Migranten stellt sich die Frage nach der Teilhabe an der Stadtgesellschaft und ihren Ressourcen in sehr unmittelbarer Weise" meint Andrej Holm, der 2017 auch die Gründung der Halleschen Gruppe von "Recht auf Stadt" begleitete.
Henri Lefebvre. Das Recht auf Stadt. Aus dem Französischen von Birgit Althaler. Edition Nautilus. Hamburg 2016. Taschenbuch 18,- €. eBook 15,- €