Das Café Rosenburg – ein gemütlicher Ort für einen Plausch. Constanze Stange hat sich zwei Stunden freigeschaufelt. Sie kommt gerade aus ihrem Kindergarten. Zu Hause warten die 10jährige Tochter und noch jede Menge Arbeit. Die Nachmittage gehören ihrem Kind. Wenn Charlotte zu Bett gegangen ist, beginnt die zweite Schicht mit „administrativen Tätigkeiten“. „Na ja, es ist schon auch anstrengend, aber ich kann mir meine Arbeit frei einteilen. Ich habe mein Leben so organisiert, dass ich mich frei fühle.“
Die Geschäftsführerin der Erdenkinder ist Mutter, musiziert und folgt ihren Neigungen. Der Kindergarten, dessen Träger ein Verein ist, in dem hauptsächlich Eltern wirken, ist gerade sieben Jahre alt geworden. Alle sind glücklich in dem Haus in der Schleiermacherstraße. Allerdings ging durch Baumaßnahmen am benachbarten Grundstück ein großer Teil des Gartens verloren. Die Erdenkinder spielen viel draußen. Dafür reicht der Platz nicht mehr. Die Suche nach einem passenden neuen Domizil gestaltete sich schwierig. Aber nun scheint es geschafft. Am 1. April sollen die Bauarbeiten in der Großen Brunnenstraße 4 beginnen. Das Objekt gehört einem Anwalt, der sich für die Idee des alternativen Kindergartens begeistert. Ursprünglich war es eine Schule, in der erstmals Mädchen und Jungen zusammen unterrichtet wurden. In DDR Zeiten gab es dort einen Hort. Nach der Wende, die Constanze als Zusammenbruch des Systems bezeichnet, weil sie den Begriff nicht mag, wurden Büroräume daraus. Am 30. Juni sollen endlich wieder Kinder einziehen.
Was ist das Besondere an den Erdenkindern? Das Konzept. Es sieht vor, die Kleinsten in enge Berührung mit der Natur zu bringen. Auf dem Spielplatz gibt es keine genormten Klettergeräte, sondern jede Menge Sand und natürlichen Bewuchs. Dreckig machen ausdrücklich erlaubt! Herkömmliches Spielzeug, insbesondere solches aus Plastik, ist rar – die Kinder dürfen ihre Spielsachen selbst kreieren. Sie können sich natürlich bewegen und Vieles ausprobieren. Auch beim Essenzubereiten helfen sie gern. Täglich wird ein frisches vegetarisches Menü aus regionalen und saisonalen Zutaten gereicht. Jeden Dienstag ist Waldtag. Bei Wind und Wetter geht es raus zum Galgenberg oder in die Heide. So entwickeln die Kleinen spielerisch und ganz nebenbei ökologisches Bewusstsein.
Constanze Stange ist eigentlich Sozialwissenschaftlerin. Schon früh hatte sie ein starkes Gespür für Ungerechtigkeit. Der Vater war selbständiger Handwerker. Im Kreise der Familie äußerte er seine Kritik am DDRSystem jedoch nie ohne den Hinweis: „Das bleibt hier an diesem Tisch.“ Früh hat die in Beesen Aufgewachsene die Widersprüche in der Gesellschaft wahrgenommen. Warum die Großtante aus dem Westen zu Besuch kommen konnte, während sie nicht zu ihr fahren durfte, blieb unbegreiflich. Ein komischer Staat war das.
Dennoch kam es für die 19jährige nicht in Frage, ihren Eltern zu folgen, als diese 1989 über Ungarn ausreisten. „Einfach weggehen kann nicht die Lösung sein.“ Dann begannen die Demonstrationen in Leipzig. Constanze und ihr Freund waren dabei und fühlten ein inneres Drängen: „Hier muss was passieren.“ Es begann eine Zeit, wo alles möglich war. Eine große Aufbruchstimmung. Sie arbeitete damals als Volontärin bei der LDZ (Liberal Demokratische Zeitung) und konnte plötzlich Artikel schreiben, die niemand redigierte. Bald kam der Springer-Verlag. Der Staat wurde durch den Verlagsherren ersetzt. Eine wirklich freie Presse gab es dann auch nicht mehr.
Die junge Frau entschied sich gegen eine JournalistInnenlaufbahn und für ein Studium der Soziologie. Sie wollte erforschen, wie die Strukturen in der Gesellschaft funktionieren und wie sie eventuell zu verändern sind. Lange hat sie geglaubt, dass die Wissenschaft ihr Zuhause sei. Sie arbeitete in der Frauenforschung und wurde wegen einer Studie zur Ungleichheit von KünstlerInnen im Kultusministerium „hofiert“. Geändert hat sich durch ihren kritischen Bericht nichts. Sie fragte sich schließlich: Was mache ich hier eigentlich?
Gerade Mutter geworden, kam sie zu dem Schluss: Wenn wir etwas verändern wollen, können wir das nur bei unseren Kindern. In dieser Umdenkphase begegnete ihr eine andere junge Mutter, von Beruf Pädagogin. Statt über Windeln und Babykosmetik redeten sie über ihre Vorstellungen von Kinderbetreuung jenseits der gängigen Praxis. Bald waren sie sich einig: Wir rufen für unsere Kinder etwas Anderes ins Leben. Und zwar gleich etwas Richtiges, so dass weiteren Eltern mit ähnlichen Wünschen für ihre Sprösslinge geholfen wird. Die Idee der Erdenkinder war geboren. Ein Konzept wurde von den beiden Akademikerinnenerarbeitet. Dann begann die „Tippel-Tappel- Tour“ zu den Ämtern. Direkt abgewiesen wurden sie nicht. Ablehnung und Abwertung haben sie dennoch gespürt. „Es ist gut, wenn man nicht weiß, was für Schwierigkeiten im Einzelnen auf einen zukommen.“ Der Enthusiasmus trug die beiden Frauen, die sich gegenseitig Mut machten und den Rückhalt ihrer Männer hatten, immer weiter. Das Konzept kam durch. Jetzt wurden Eltern gesucht, die es annehmen wollten. Schnell fand sich ein fester Stamm. Und dann war es nur noch ein Abarbeiten: Gebäude suchen, Ämter, Fördertöpfe. Die letzte große Hürde: Personal finden, das nicht nur einen Job sucht, sondern von einer anderen Perspektive träumt. 18 Monate dauerte es von der Idee bis zur Eröffnung des Kindergartens in freier Trägerschaft. Der Vorteil einer solchen: „Wir entscheiden sehr frei. Der kleine Nachteil: Wir müssen die ganze Verwaltung selber machen.“ Und das ist Constanzes Job. Ein Full-Time-Job.
Aus ihrer Idee, was Eigenes, Anderes zu machen, ist ein Betrieb geworden, der neun Leute ernährt. Dass das möglich ist, bezeichnet sie als Errungenschaft. Wenn sie sich zuweilen nach zwei Wochen „administrativer Arbeit“ fragt: Ist es eigentlich das, was ich wollte?, setzt sie sich zwischen ihre Kinder. „Und dann weiß ich, warum ich das mache.“ Die Gestaltung des Miteinanders sieht Constanze als die große Aufgabe unserer Zeit. Es sei nötig, die Folgen unseres Handelns abzuwägen und dafür zu sorgen, dass das Moralische, das Sittliche in die Welt kommt.
„Du kannst dein Glück nicht auf dem Unglück eines anderen aufbauen.“ Mit diesem Gedanken sind die Erdenkinder von klein auf vertraut.
Erdenkinder e. V.
| selbst verwalteter Kindergarten
| seit 2006 in der Schleiermacherstr. 4
| 2013: geplanter Umzug in die Große Brunnenstr. 5
Solveig Feldmeier