Am Pfingstsamstag findet in Berlin eine ganztägige Künstlerkonferenz für Gegenkultur statt. Geplant ist unter anderem die öffentliche Diskussion und Verabschiedung eines Manifestes. Zu den Gästen und Mitwirkenden gehören der Liedermacher Konstantin Wecker, der Autor Erich Hackl, der Schauspieler Rolf Becker oder der Pianist Chris Jarrett. In einem Interview mit der Halleschen Störung spricht Jarrett über Popkultur, den Kapitalismus und die Rolle des Künstlers im Weltgeschehen.
Der Begriff Gegenkultur wird in der Soziologie so verstanden, dass sie die primären Werte und Normen einer Mehrheitskultur in Frage stellt. Gegen welchen kulturellen Mainstream richtet sich die Konferenz, zu der Du geladen bist?
Die Konferenz macht klar, dass sie den Kapitalismus verantwortlich macht für alles Elend der Welt. Sehr weit von der Wahrheit liegt sie damit nicht. Auch eine gangbare Alternative ist nicht in Sicht.
Der „Mainstream“-"Kultur" mit ihren psychologischen und emotionalen Schäden, die sie anrichtet, muss mit Wucht widerstanden werden. Die Rolle von Film, Computerspiel und "Pop" Musik ist erheblich in der Herstellung von Charaktereigenschaften, die dem System blind ergeben sind. Die Menschen sollen das Gefühl haben, sie würden aus freien Stücken handeln. Eine frei Wahl von Lebensstil oder kultureller Umgebung ist aber kaum noch möglich. Deswegen würde ich eher nicht von einem "rechten Zeitgeist" sprechen, sondern von einem verzweifelten Zeitgeist oder einem verdumpften Zeitgeist.
"Der 'Mainstream'-'Kultur' mit ihren psychologischen und emotionalen Schäden, die sie anrichtet, muss mit Wucht widerstanden werden."
Welche neuen Probleme - besonders hinsichtlich Fragen der politischen Autorität - auch im Idealfall der Umsetzung antikapitalistischer Träume, auftauchen würden, ist nicht voraussehbar. Man braucht kein Visionär zu sein um zu wissen das es eine ganze Menge wären. Die riesigen Sünden und Fehlschläge der Vergangenheit und der Gegenwart bei denjenigen, die eine Alternative zu diesem zerstörerischen System gesucht haben, müssen uns stets bewusst sein.
Zusammen mit anderen Gastkünstlern wie Kontantin Wecker oder bist Du aufgefordert, dort ein 'Manifest für Gegenkultur' zu diskutieren und künstlerisch zu kommentieren. Was hat es damit auf sich und inwiefern wart ihr an dessen Wortlaut beteiligt?
Der Wortlaut dieses Manifestes, wie ich es gelesen habe, hat mich immerhin motiviert mit diskutieren zu wollen. Die Lust dazu kam aus dem Gefühl heraus, dass das Thema von sehr hoher Wichtigkeit ist, dass man ihm aber eben nicht mit uralten Sprachfetzen und Formeln aus dem 19. Jahrhundert beikommen kann. Nur mit "Das Kapital" bewaffnet, wird man die hochkomplexen Probleme der Moderne jedenfalls nicht lösen können. Die "Moral" ist vielleicht der wichtigste Aspekt jenes Versuches das System zu vermenschlichen. Wenn das Fressen aber zuerst kommen muss, wie Brecht sagte, dann muss es wirklich schnell her, damit man endlich mit dem Bau einer lebenswerten Zukunft anfangen kann. Ohne Ethik wird es nur "1 Schritt Vorwärts und 2 zurück" geben – eine bittere Erkenntnis der Geschichte.
"Nur mit 'Das Kapital' bewaffnet, wird man die hochkomplexen Probleme der Moderne nicht lösen können"
Wichtig wird es sein, dass der Wortlaut des Manifests ernst genommen wird, wenn es von einer breiten Bewegung spricht. Im Grunde gibt es doch bereits eine Mehrheit, die den Kapitalismus für verfehlt hält. Sie fühlt sich aber hilflos. Inzwischen sind doch Papst, Sultan und auch erhebliche Teile der Konservativen nicht mehr für den Turbokapitalismus. Wir brauchen diese Leute. Man will doch die Kapitaljunkies auch glücklich machen und auf Entziehungskur bringen..
Musikalisch stehst Du der Avantgarde näher als einer populären Breitenkunst, wie sie POP als Gegenkultur – von Blues bis HipHop - immer wieder hervorgebracht hat. Wie gehst Du künstlerisch mit diesem Widerspruch um?
Die Pop-Kultur ist insgesamt doch seit etwa 40 Jahren ein rein, betrügerisches, kapitalistisches Geschäft! Ich bin eigentlich ziemlich stolz drauf, dass ich als bewährter Vietnamkriegsgegner der Hippiekultur niemals wirklich getraut hatte. Klassische Werke wie Händels visionärer "Messias" oder Vaughan Williams Friedensode "Dona Nobis Pacem," Penderecki's "Threnody" oder Henzes "Bericht über Schweine" waren schon damals für mich aussagekräftiger und vertrauenswürdiger als Janis Joplin oder Jimi Hendrix.
"Die Pop-Kultur ist insgesamt doch seit etwa 40 Jahren ein rein, betrügerisches, kapitalistisches Geschäft"
Die meisten Mitmacher der Hippiebewegung haben die Ideale nicht wirklich ernst genommen - dafür war der "ride" zu spaßig. Es war abzusehen, dass diese Gruppe sich bald für den Weg ihrer Eltern entscheidet und in die "Wirtschaft" geht. Seitdem ist die Popmusik weitgehend ein heuchlerisches Symbol U.S.amerikanischer Freiheit und Teil einer Verblödungs- und Entwertungsindustrie. Zudem, wird oft offen eine rücksichtslose Dekadenz gepredigt.
Natürlich gibt es noch Ausnahmen. Ich habe immer gefunden, dass das Streben nach Wahrheit und die Konfrontation mit der Realität - allerdings nicht nur nach außen - die beste Lösung ist. Wahrheitssuche, in einer Welt unter U.S. Führung (siehe das Schicksal von Julian Assange) ist fast gleichzusetzen mit Widerstand. Ich stehe aber auch mitnichten unter der Schirmherrschaft einer Avantgarde - dafür nehme ich meine künstlerische Freiheit zu ernst.
In deiner Heimat USA sind unter Trump radikale linke Bewegungen wie die DSA stark geworden – mit erheblichem Einfluss auf die Demokratische Partei. Wie stehst Du persönlich zu deren Forderung nach grundsätzlich mehr Staat?
Mehr Staat? In Zeiten wo Hunger, Not, Naturkatastrophen, Bevölkerungswachstum, Epidemien, Kriege den Alltag bestimmen? Das ist nicht radikal. Zumal die USA und ein ganz großer Teil der dortigen Bevölkerung völlig von Aktien und der Privatwirtschaft abhängig ist. Gewarnt werden muss aber auch vor der Gefahr von Innovations- und Kreativitätseinbrüchen, die oft einhergehen mit einem zu starkem Staat - ganz abgesehen von den schwierigen Fragen der politischen Autorität.
"Wir müssen - wenn es noch geht - zurück zum Inhalt der Menschheitsgeschichte und zur Entwicklung des Menschen hin zum solidarischen Wesen."
Es wird dazu kommen müssen, dass Regieren weitgehend eine Sache der staatlichen Institutionen wird, die inhaltlich bestimmt sind und nicht abgelenkt werden durch Profitinteressen. Meine Sorge ist, dass bis ein solcher Wechsel stattfindet, Kriege kommen werden, die erst in der Lage sein werden den Menschen die Augen zu öffnen. Bisher waren große Änderungen leider immer nur so möglich. Können wir dies verhindern? Im Moment überleben wir durch das Aneignen von Dingen die wir überhaupt nicht brauchen - erst recht nicht um zu überleben. Wir müssen - wenn es noch geht - zurück zum Inhalt der Menschheitsgeschichte und zur Entwicklung des Menschen hin zum solidarischen Wesen. Forschung, Sinnsuche, Kultur, Arbeit.
Politische Fragen werden heute als Kulturkampf und nicht als Klassenkampf ausgetragen. Das Plakatmotiv zur Konferenz nimmt deutlich Bezug auf die dreißiger Jahre. Provokativ gefragt: Sind AgitProp-Brigaden die Antwort?
Auf der einem Seite ist ein Rückbesinnen auf große Zeiten der Gegenkultur - Zeiten die heute "klassisch" wirken - nicht unbedingt schlecht. Eisler, Kollwitz, Brecht - sie waren ganz große und eindrucksvolle Künstler. Doch wenn man die Sprache im Manifest und die Bilder zusammen betrachtet, muss man leider befürchten, dass wir es hier mit einem prototypischen Beispiel der Nostalgie zu tun haben. Aus derselben Generation der Gegenkultur der Weimarer Republik hätte man auch Grosz, Hindemith und Tucholsky nehmen können. Es gab Universen von Künstlerwelten die auf verschiedenste Weisen gegenkulturelle Beiträge in dieser Zeit geleistet haben. Auch Sovietkomponisten wie Schostakowitsch schrieben um ihr Leben in einer maßlosen und moralisch haltlosen Diktatur.
"Meine Musik besteht nicht aus bürgerlicher Heuchelei."
Aber, das ist fast einhundert Jahre her. Ja – und es gäbe einfallsreichere Möglichkeiten eine jugendfreundliche Werbung zu gestalten als hier gemacht wurde. Von meiner Seite würde ich aber gerne hinzufügen, dass ich meine Musik (auch wenn sie manchmal komplex ist) schon als Musik von unten sehe - Musik die hofft verstanden zu werden von denen deren Leben von den handfesten Realitäten der Arbeitswelt geprägt ist. Meine Musik besteht nicht aus bürgerlichen Heuchelei. In Zeiten wo die Arbeit zunehmend von Maschinen und Technologie übernommen wird, ist es aber sicher nicht möglich sich die "Arbeiterklasse" als alleinige Zukunftsträger vorzustellen. Schlecht ist es allerdings meist nicht, wenn die Politiker aus dem Milieu stammen. Künstler und Philosophen, die in die Politik gingen (Hitler, Mao, Kim Jong II etc.) haben, historisch gesehen, dabei jämmerlich versagt!
Abb oben: Konzert 2019 im Literaturhaus Halle | Foto: Thomas Blase