Mehr Lesen, weniger Singen - so titelte kürzlich die MZ. Und ich als ehemalige Lehrerin für Deutsch und Englisch (sowie darüber hinaus Vermittlerin so „sinnloser“ Dinge wie Laienspiel und Lernen durch Engagement) bekam bei dem Bericht über den einstimmig gefassten Beschluss der CDU-Fraktion im Magdeburger Landtag einen Schreikrampf. Wie dumm ist das denn?!
Experten wie der Pisa-Chef Andreas Schleicher, die den „katastrophalen“ deutschen Pisa-Test analysiert haben, kommen zu dem Schluss, dass das schlechte Abschneiden am veralteten Lehrbetrieb der allermeisten Schulen liegt. Und damit war nicht etwa nur die verspätete Digitalisierung gemeint.
In einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung sagte Schleicher, die deutsche Bildungspolitik sei geradezu stehengeblieben - und das in einer Zeit, in der die Anforderungen immer größer wurden - beispielsweise was die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund angehe. Doch Schule müsse heutzutage Heranwachsende zu selbständigem Denken befähigen und ihnen vermitteln, wie sie ihr angelerntes Wissen auf neue Zusammenhänge übertragen können. Lehrer müssten Coaches sein und ihnen bei ihren individuellen Lernprozessen helfen.
Wenn unsere hiesige CDU jetzt klippschulenartig an Grundschulen den Deutsch- und Matheunterricht zu Lasten der sogenannten „Nebenfächer“ stundenplanmäßig verstärken will, ist das der falsche Weg, um Kinder mit den wichtigsten Fähigkeiten auszustatten.
Gerade Heranwachsende aus sogenannten „bildungsfernen“ Familien oder Sprösslinge von Zugewanderten lernen nicht besser lesen und schreiben, indem sie noch mehr langweilige Deutschstunden womöglich mit trockener Grammatik und Rechtschreibung aufgebrummt bekommen. Bei ihnen muss möglichst spielerisch und ohne pädagogischen Zeigefinger die Lust am geschriebenen Wort geweckt werden. Das hilft übrigens auch dabei, Matheaufgaben besser zu verstehen.
Ausgerechnet die Musik reduzieren?
In ihrem Buch “Klassenbeste“ beschreibt die erfolgreiche Journalistin Marlen Hobrack, wie sie als „Unterschichtenkind“ zur Liebe von Lesen und Schreiben gelangt ist. Es war ein langer Weg, aber an dessen Anfang stand die mündliche Interaktion. Ihre frühe Spracherziehung fand durch Singen und Reimen statt. Ihre Mutter hat ihr nicht vorgelesen, aber sie hat immer mit ihr gemeinsam gesungen und gereimt. Reime und Gesang sind also wichtig. Und da will man ausgerechnet die Musikstunden kürzen, in denen sich Kinder zudem auch im Rhythmus der Musik bewegen dürfen!?
Auch im Englischunterricht der Grundschule wird die Sprache vor allem durch das gemeinsame Sprechen und Singen memoriert. Daran haben Kinder Freude. Und wenn es dann in Klasse 5 so richtig mit Vokabeln lernen losgeht, sind sie hochmotiviert, da sie ja schon viele Wörter und Sätze kennen. Englisch ist die Sprache der modernen Medien und der Popmusik. Unsere Kinder sind jeden Tag davon umgeben und interessieren sich von daher automatisch für diese Sprache. Und diese Chance will man in Sachsen-Anhalt wieder vertun?
"Leseband" und andere neue Konzepte
In einigen anderen Bundesländern dagegen wird unter dem Schlagwort „Lesende Schule“ ein neuer vielversprechender Weg eingeschlagen, um Schülerinnen und Schüler stärker für das Lesen zu interessieren. Seit einigen Jahren gibt es beispielsweise das „Leseband“ an Hamburger Grundschulen. In einem Interview für das Deutsche Schulportal mit dem Titel 'Wie sich der Teufelskreis des Nichtlesens durchbrechen lässt' beschreibt Steffen Gailberger, Professor für Literatur- und Lesedidaktik an der Bergischen Universität Wuppertal und Projektleiter das Leseband:
„Jeden Tag gibt es eine 20-minütige Lesezeit, die in die Stundentafel integriert ist und als eigenständiges Unterrichtsfach betrachtet wird. Wann es am Unterrichtstag stattfindet, wird den Schulen überlassen. Wenn eine Schule das Leseband einführen will, sollten sich Schulleitung und Kollegium darauf verständigen, von Montag bis Freitag jeweils einem anderen Unterrichtsfach die 20 Minuten abzuzwacken. Das führt zunächst oft zu Protest. Aber die Lehrerinnen und Lehrer merken schnell, dass eine geförderte Lesekompetenz allen Unterrichtsfächern zugutekommt, in denen Schriftlichkeit eine Rolle spielt. Da alle Kolleginnen und Kollegen – auch die fachfremden – beteiligt sind, haben auch alle die etwa dreistündige Fortbildung bekommen, in der sie unterschiedliche Leseverfahren kennenlernen.“ Und so gestaltet beispielsweise die Mathelehrerin eine Lesestunde mit ihren Fachinhalten. Die Kinder können hier besonders lustige Sach- oder Knobelaufgaben lesen und gemeinsam lösen.
Die empirische Auswertung des Pilotprojektes ergab, dass sich Lese- und Rechtschreibleistungen, aber auch das Verständnis von Sachaufgaben in anderen Fächern erheblich verbessert haben. Als Kontrollgruppe wurden Kinder herangezogen, die nicht am Projekt teilnahmen, aber eine ähnliche Ausgangslage aufwiesen. Sie fielen deutlich ab gegenüber den geförderten Kindern.
Allerdings müsse klar sein, dass Lesebänder Kosten verursachen, so Gailberger, denn wenn die Lesezeit um 100 Minuten in der Woche gesteigert werde, brauchten die Schulen entsprechend geeignetes Lesematerial. Und wichtig sei schließlich zudem, dass alle Lehrkräfte dahinterstünden.
Phonetische Methode
Marlen Hobrack betrachtet den Teufelskreis noch einmal aus einem etwas anderen Blickwinkel: „Wenn wir heute über Sprach-und Lesekompetenz von Kindern sprechen, sind die Debatten durchsetzt von Vorstellungen der Mittelschichtswelt, wonach nur der gut lesen lernt, der möglichst früh ein Buch in der Hand hält. Dabei ist die richtige Art des Lesenlernens in der Schule womöglich von größerer Bedeutung.“ Horbrack plädiert für die phonetische Methode statt der in Mode gekommenen Ganzwortmethode. Diese benachteilige Kinder, die ohne Bücher aufwüchsen und lasse sie häufig als funktionale Analphabeten zurück. Sie bezieht sich dabei auf Forschungsergebnisse des US-Amerikaners John McWhorter.
Das „Leseband“ greift verschiedene Methoden des Lesenlernens auf und setzt dabei vor allem auf Team - und Tandem Arbeit. Dem gegenseitigen lauten Vorlesen kommt dabei besondere Bedeutung zu.
Sport, Musik oder Werken können Hauptfächer sein
Letztendlich wird in den teilnehmenden Schulen Lesekompetenz fächerübergreifend vermittelt. Das muss der Weg sein. Und nicht die seltsame Idee, „Nebenfächer“ zu kürzen und die Lehrpläne für Deutsch und Mathe noch voller zu stopfen. Es sollte überhaupt keine Unterschiede zwischen Haupt- und Nebenfächern mehr geben. Auch Sport, Musik, Hauswirtschaft, Schulgarten und Werken sind heutzutage Hauptsache. Denn sie schulen die Motorik, das Allgemeinwissen und die Sinneswahrnehmungen. Diese Fähigkeiten werden dringend gebraucht in Zeiten von übermäßigem Konsum moderner Medien.
Pisa-Experte Schleicher plädiert für mehr kollegiale Zusammenarbeit im Lehrerteam. Außerdem spricht er sich für ein längeres gemeinsames Lernen an deutschen Schulen aus und betont die Wichtigkeit der Zusammenarbeit mit den Eltern, unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund.
Die polytechnische Oberschule ist ja keine neue Idee, eben so wenig wie Elternbesuche, um das Umfeld des Kindes kennenzulernen und in vertrauensvollen Kontakt mit den Eltern zu kommen, die sich vielleicht nicht in die Elternversammlung trauen bzw. keine Zeit dafür haben oder keine Fahrgelegenheit. Vielleicht könnte sich die Bildungspolitik der CDU in Sachsen-Anhalt auch an positiven Erfahrungen aus der Vergangenheit orientieren, um aus der Misere zu finden.
Solveig Feldmeier
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