Campact, Attac oder der VVN-BdA haben offiziell ihren Status als "gemeinnützig" verloren, die Bertelsmannsiftung oder die LIDL-Stiftung hingegen nicht. Zufall oder Absicht? Viele zivilgesellschaftliche Akteur*innen haben mittlerweile Angst, sich politisch zu engagieren – aus Sorge, ihre Gemeinnützigkeit zu verlieren. Zu diesem Ergebnis kam eine Umfrage des “ZiviZ im Stifterverband” (Zivilgesellschaft in Zahlen). Hochgerechnet verliert die politische Debatte in Deutschland damit mehr als 30.000 Organisationen und Vereine.
Im Bereich Umweltschutz geben sogar elf Prozent der Befragten an, sich aus Vorsicht politisch zurückzuhalten. Diese Zahlen erschreckenden untermauern die Erfahrungen vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen: Das überholte Gemeinnützigkeitsrecht unterdrückt wichtiges demokratisches Engagement von gemeinnützigen Vereinen und Initiativen. 14 zivilgesellschaftliche Organisationen drängen die Ampel-Regierung daher, dringend diesen Missstand zu beheben und die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts anzugehen – wie im Koalitionsvertrag versprochen.
Begriffsschärfung beim Thema "Gemeinnützigkeit" nötig
Dazu müsse die Abgabenordnung um gemeinnützige Zwecke erweitert und vorhandene Zwecke müssen konkretisiert werden. Nur auf diese Weise kann die wichtige Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Förderung von Demokratie, Grund- und Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, politischer Bildung sowie sozialer Gerechtigkeit gewürdigt und abgesichert werden. Gemeinnützigen Organisationen muss es zudem erlaubt sein, sich an der politischen Willens- und öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen – in dem Maß, in dem sie es für angemessen halten. Ferner fordert das Bündnis eine Demokratieklausel, mithilfe derer gemeinnützige Organisationen aus aktuellem Anlass über den eigenen Satzungszweck hinaus aktiv werden können.
Hashtag #30000MalWenigerDemokratie
Am 7. März machten 14 Organisationen und zahlreiche weitere Partner*innen aus der Zivilgesellschaft zusätzlich auf Social Media unter dem Hashtag #30000MalWenigerDemokratie deutlich, wie Organisationen alltäglich vom veralteten Gemeinnützigkeitsrecht daran gehindert werden, sich politisch einzubringen.
Zur ZiviZ Trendstudie 2023: http://www.ziviz.de/ziviz-survey
Mit dem ZiviZ-Survey untersucht ZiviZ alle vier bis fünf Jahre Organisationen der Zivilgesellschaft in Deutschland. Zur organisierten Zivilgesellschaft zählen mehr als 615.000 eingetragene Vereine, aber auch Stiftungen, gemeinnützige GmbHs und Genossenschaften. Die repräsentative Befragung von ZiviZ ist in Deutschland einmalig und dient sowohl der Zivilgesellschaftsforschung als auch der Politik als wichtiges Orientierungswissen.
Stimmen aus der Zivilgesellschaft:
Frauke Distelrath, Geschäftsführerin von Attac Deutschland: "Der Entzug der Gemeinnützigkeit von Attac 2014 war ein Angriff auf die kritische Zivilgesellschaft. Zahlreichen anderen fürs Gemeinwohl engagierten Vereinen wurde danach die Gemeinnützigkeit abgesprochen. Fast noch demokratieschädigender sind die weniger sichtbaren Folgen, die der ZiviZ Survey bestätigt: Wichtige Stimmen gehen im Diskurs verloren, weil Vereine es nicht mehr wagen, sich politisch einzumischen. Es ist höchste Zeit für ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht, das die demokratische Zivilgesellschaft stärkt, statt ihren Gegner*innen zu helfen. Wir brauchen Engagement statt Politikverdrossenheit!"
Dr. Felix Kolb, Geschäftsführender Vorstand bei Campact: "Der neue ZiviZ Survey zeigt: Das veraltete Gemeinnützigkeitsrecht ist der Sargnagel für eine lebendige Demokratie. Politisch engagierte Vereine verstummen, da ihr Wirken systematisch ausgebremst wird. Statt die Leistung dieser Vereine rechtlich abzusichern, vereitelt die starre Auslegung der Satzungszwecke ein Engagement für Demokratie. Diesen Missstand muss die Ampel-Regierung mit einer Reform des Gemeinnützigkeitsrechts endlich aus dem Weg räumen. Die Arbeit für Menschenrechte, Demokratie und soziale Gerechtigkeit gehört in die Liste der gemeinnützigen Zwecke."
Florian Schöne, Geschäftsführer des Umweltdachverbands Deutscher Naturschutzring (DNR): "Demokratie lebt von der Stärke ihrer Zivilgesellschaft. Unsere Mitglieder leisten mit ihrem Engagement einen wichtigen Beitrag für ein vielfältiges, nachhaltiges und lebenswertes Land. Ihre bisweilen kritische Begleitung und Kontrolle politischer Prozesse gehört zum anerkannten Selbstverständnis freiheitlicher Gesellschaften. Dieses Engagement ist für eine lebendige Demokratie unverzichtbar und muss durch eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts gestärkt werden."
Dr. Chris Methmann, Geschäftsführer von foodwatch Deutschland: "Natürlich nützt demokratische Debatte dem Gemeinwohl. Und das muss sich auch im Recht wiederfinden. Diese Zahlen zeigen: Blockiert die Regierung eine Gemeinnützigkeits-Reform, setzt sie sich dem Vorwurf aus, sie wolle die Kritik an ihrer Arbeit dämpfen. Für die Demokratie wäre das fatal."
Ulf Buermeyer, Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V.: "Wenn sich zivilgesellschaftliche Akteure nicht mehr trauen, den Finger in die Wunde zu legen, ist das ein fatales Zeichen für unsere Demokratie. Die Umfrage bestätigt, wovor wir seit Jahren warnen: Das deutsche Gemeinnützigkeitsrecht beschränkt zivilgesellschaftliches Engagement und muss dringend modernisiert werden. Wie das geht, zeigen wir in unserem umfassenden Gesetzentwurf für ein Demokratiestärkungsgesetz."
Imke Dierßen, politische Geschäftsführerin von LobbyControl: "Damit in unserer Demokratie ausgewogene und am Gemeinwohl orientierte Entscheidungen möglich sind, brauchen wir eine Zivilgesellschaft, die sich politisch einmischt. Die Ampel-Koalition muss endlich Rechtssicherheit bei der Gemeinnützigkeit für die Zivilgesellschaft schaffen, damit den NGOs nicht länger Steine in den Weg gelegt werden."
Alexander Trennheuser, Bundesgeschäftsführer von Mehr Demokratie e.V.: "Politisches Engagement in Deutschland verändert sich: Dass die Parteien weniger Zulauf haben, heißt nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger politikverdrossen sind. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind so wichtig wie nie zuvor! Das Gemeinnützigkeitsrecht muss dafür sorgen, dass Engagement gefördert statt ausgetrocknet wird. Wenn man zeitgemäße Formen des Engagements blockiert, wird das zu einem echten Demokratie-Problem!"
Maritta Strasser, Bundesgeschäftsführerin der NaturFreunde Deutschlands e.V.: "Der Status der Gemeinnützigkeit ist für die Arbeit der allermeisten Vereine der Zivilgesellschaft existenziell. Er fußt aber auf einem veralteten Recht mit aus der Zeit gefallenen und oft schwammig formulierten Kriterien. In der Anwendung haben einzelne Sachbearbeiter*innen der Finanzämter viel Auslegungsspielraum und können die politische Stimme einer lebendigen Zivilgesellschaft sehr schnell leise stellen. So erging es unserem Landesverband Thüringen, der über eineinhalb Jahre um seine Gemeinnützigkeit mit dem Finanzamt kämpfen musste. Wir fordern endlich Rechtssicherheit, um unseren Beitrag zu einer lebendigen Demokratie leisten zu können!"
Cornelia Kerth, Bundesvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA): "Wir wissen, was es bedeutet, wenn die Gemeinnützigkeit gefährdet ist. Zwischen 2019 und 2021 mussten wir um unsere materielle Existenz bangen und konnten die schwierige Auseinandersetzung auch dank einer großen und gesellschaftlich breiten Solidarität zu einem guten Ende bringen. Der Aufwand an Zeit und Kraft war immens, die Anspannung groß. Seit drei Jahren wird nun schon über die Ausweitung und Anpassung des "Katalogs" gemeinnütziger Tätigkeitsfelder, z. B. der Einsatz für Menschenrechte oder Klimaschutz, diskutiert. Es wird Zeit, das umzusetzen. Und: Was gemeinnützig ist, darf nicht der Inlandsgeheimdienst entscheiden."