Ich fühle sie in mir aufsteigen, die Säfte. Fühlen Sie es auch? Was immer in der Welt sonst noch geschehen mag, sorry, hier ist jetzt Frühling. Das ist eine Zeit eigenen Rechts, die über Mittel und Wege gebietet, ihr Recht mit Macht durchzusetzen. Hormonell ausgedrückt: Die Produktion von Melatonin, dem Winterschlafhormon, wird vom Frühlingslicht, das durch die Augen einfällt, gebremst. Einen Schub erfährt stattdessen Adrenalin, das Antriebshormon. Prompt stellen die berühmten „Frühlingsgefühle“ sich ein, mit anschwellenden Adern der angenehmen Art, machtvoll auch sie, und schon ist alle Wissenschaft vergessen, denn dies ist die Zeit der Poesie. Die Dichter aller Zeiten huldigten ihr. Der Frühling heilt alle Wunden, lässt alle Enttäuschungen vergessen, füllt jede Leere. Er ist die Zeit der großen Zärtlichkeit.
Im Frühling wird es deutlicher als sonst: Der Mensch ist im Grunde eine Pflanze. Eine Pflanze, die laufen gelernt hat. Immer im Winter werden die Säfte unterirdisch vergraben. Immer im Frühling kehren sie zurück, und der Mensch blüht wieder auf. Sonnenhungrige Pflanzen neigen einander ihre Häupter zu. Wohl dem, der jetzt jemanden hat, mit dem sich diese Gefühle leben lassen. Denn Frühlingsgefühle, das sind eindeutige Gefühle. Nicht nur unter Vögeln herrscht jetzt reger Verkehr. Dass zur ars vivendi, der Lebenskunst, immer auch eine ars amandi, eine Kunst des Liebens gehört, versteht sich von selbst. Dass dieser nicht nur eine seelische und geistige Dimension eigen sein kann, sondern auch eine sehr fleischliche, ist unabweisbar.
Seelen und Leiber stehen jetzt in Flammen, das Begehren entzieht sich jeder Kontrolle. An eine Mäßigung ist nicht zu denken. Die Menschen zittern nach Liebe, die Enttäuschung holt sie erst später wieder ein. Die Zeit der großen Kälte ist vorbei – dass sie wiederkehrt, liegt jetzt ganz fern. Schweigen wir darüber, dass dort, wo solche Gefühle sind, auch die Werbeindustrie nicht weit ist, die sie auf frivole Weise zu nutzen weiß. Gerade jetzt, wo wir so wehrlos sind, macht sie uns zu willigen Konsumenten. Selbst eine sonst recht bescheidene Zeitschrift in Berlin kann plötzlich auf neue Interessenten hoffen. Womit sie wirbt? Ganz unverhohlen legt sie uns das frühlingshafte Entzücken auf die Lippen: „Ich freu’ mich auf die nächste Nummer!“
(frisch zitiert aus:)
Wilhelm Schmid: Die Kunst der Balance: 100 Facetten der Lebenskunst. Insel Verlag 2005
Foto: Streifinger/ Apfelblüten am Hufeisensee/ Halle
Da stimmen wir hemmungslos mit ein. Hoffnung und Lustgefühle auch hier. Die Redaktion freut sich über die steigende Zahl von AbonnentInnen und neue Genossenschaftsmitglieder bei Halle im Wandel e G i.G. und ist schon ganz heiß auf den Mai.