Genera­ti­on Dixi

Schon lan­ge rät­seln die Zeit­geist-Sozio­lo­gen und Buch­de­ckel-Mar­ke­ting­ex­per­ten, was wohl nach den von ihnen pos­tu­lier­ten und erfun­de­nen Genera­tio­nen x und y fol­gen könn­te. Eine mög­li­che Ant­wort lie­fert Yolan­da Rüchel aus Berlin.

 

Wir haben uns dar­an gewöhnt, mit Schei­ße kon­fron­tiert zu sein. Die Devi­se lau­tet: Augen zu und durch.

Der Ort ist traum­haft schön und die Fes­ti­val­luft ist erfüllt mit einer Mischung aus Tech­no und Jazz. Unge­mäh­ter Rasen über­deckt den mat­schi­gen Boden; hier und da ragen Blu­men her­vor und wer­den von der Son­ne ange­strahlt. Voll­ge­packt mit Bier und Apfel­schor­le lau­fe ich gedan­ken­ver­lo­ren über das Gelän­de in Rich­tung der ande­ren und las­se mich von der glücks­er­füll­ten Atmo­sphä­re lei­ten. Als ich hoch­schaue, bleibt mein Blick an vier vor mir ste­hen­den Dixis hän­gen. Per­fekt! Mein Bauch drückt schon seit einer klei­nen Wei­le und es steht noch nicht ein­mal eine Schlan­ge davor. .

Vor­sich­tig gehe ich auf die blau­en Plas­tik­häus­chen zu und ent­schei­de mich für das zwei­te von links. Jack­pott! Ohne es zu ahnen, habe ich die idea­le Zeit erwischt. Ich schaue auf die imi­tier­te Kloschüssel,wage einen Blick hin­ein und bin begeis­tert. Kei­ne Spu­ren sind zu sehen, also waren viel­leicht nur drei Leu­te vor mir hier. Froh über die­sen luxu­riö­sen Zustand hebe ich mei­nen Rock und genie­ße den Moment. Ich kann es immer noch nicht fas­sen,  denn eigent­lich ist es doch Sams­tag­abend...  Im Nor­mal­fall ist es zu die­sem Zeit­punkt nicht ein­mal mög­lich, sich ein Dixi sei­ner Wahl aus­zu­su­chen. Und im Glücks­fall ist dann gera­de mal eine von vier Toi­let­ten gera­de so akzep­ta­bel, wäh­rend die ande­ren bereits mit Schleif­spu­ren und benutz­ten Taschen­tü­chern tape­ziert sind oder schon Hügel aus den Schüs­seln herausragen..

"Wir haben unse­re Scham ver­lo­ren, unse­re Hemm­schwel­le ist gesun­ken. Was auch sonst?"

Die Toi­let­ten­si­tua­ti­on auf den Fes­ti­vals ist meist unzu­mut­bar und doch haben wir uns dar­an gewöhnt. Wir haben uns dar­an gewöhnt, mit Schei­ße kon­fron­tiert zu sein. Jeden Som­mer wie­der. Die Devi­se lau­tet: Augen zu und durch, das Dixi stür­men, kurz abche­cken, ob es mög­lich ist das Klo zu benut­zen, ohne mit den Fäka­li­en ande­rer in Berüh­rung zu kom­men und nur das Nötigs­te raus­las­sen. Das ist nicht gesund, aber die ein­zi­ge Mög­lich­keit, dem drin­gen­den Bedürf­nis ent­ge­gen­zu­kom­men. Der Gestank löst Übel­keits­ge­füh­le aus, es benö­tigt som­mer­lan­ges Trai­ning der Selbst­dis­zi­plin, nicht auch noch das Dixi vollzukübeln.

Nach so einer Dixi-Tor­tur haf­tet der Eigen­ge­ruch der Dixis lan­ge an dir. Es ist eine Mischung aus Kacke und Plas­tik und selbst Des­in­fek­ti­ons­spray und Feucht­tü­cher kön­nen dir nicht hel­fen, die­sen Geruch los­zu­wer­den. Es ist ekel­haft. Aber wir akzep­tie­ren es. Wir haben unse­re Scham ver­lo­ren, unse­re Hemm­schwel­le ist gesun­ken. Was auch sonst?
Fünf Tage nicht auf Toi­let­te zu gehen ist nahe­zu unmög­lich. Es ist unge­sund und ver­miest die Lau­ne. Wir könn­ten auf die Fel­der und Wie­sen gehen, auf denen die meis­ten Fes­ti­vals statt­fin­den. Doch auch das ist eine Illu­si­on, denn schon nach einer durch­zech­ten Nacht sind die halb­wegs ver­steck­ten Plät­ze eben­so vol­lu­ri­niert und mit Kacke über­sät wie die Dixis. Bei der Men­ge an Men­schen, die dort ver­sam­melt sind, ist das logisch. Doch ob logisch oder nicht, es muss ent­schie­den wer­den: Las­se ich mei­ne kom­plet­te Scham und mei­nen Respekt gegen­über mei­nen Mit­men­schen fal­len und gehe zu den Plät­zen, an denen noch kei­ner vor mir war, sprich neben ein Zelt, zwi­schen die Stän­de oder mit­ten auf den Floor, um nicht bene­belt von dem kata­stro­pha­len Geruch und geblen­det von dem Anblick zu sein? Oder las­se ich mei­ne Scham mir gegen­über und mei­nen Ekel vor dem Geschäft der Ande­ren fal­len, rei­ße mich zusam­men, ver­schlie­ße Augen und Nase und benut­ze das Dixi?
Eine Ent­schei­dung, die mir per­sön­lich leicht­fällt. Denn bis­her war mei­ne Not noch nie so groß und mein geis­ti­ger Zustand noch nie so am Ende, dass ich es übers Herz gebracht hät­te, an eine Stel­le zu kacken neben der Men­schen schla­fen, arbei­ten oder tan­zen. Und auch mei­ne Scham ist an die­sem Punkt noch vor­han­den und schützt mich davor, mich unter Beob­ach­tung vie­ler frem­der Men­schen hin­zu­ho­cken und loszulegen.

Dixi-Klos sind eine mili­tä­ri­sche Erfindung

Als der ame­ri­ka­ni­sche Sol­dat Fred Edwards, damals in Deutsch­land sta­tio­niert, im Jahr 1973 eine mobi­le Toi­let­te erfand, tat er das aus eben die­sem Grund: der eige­nen Scham und der feh­len­den Pri­vat­sphä­re. Er woll­te nicht mehr im Bei­sein sei­ner Kame­ra­den sei­ne Not­durft ver­rich­ten müs­sen und fand die Gerü­che und Geräu­sche der Ande­ren unzu­mut­bar. Sei­ne Erfin­dung, er nann­te sie „Dixi“, wur­de 1980 durch den Besuch von Papst Johan­nes Paul II. in der BRD bekannt. Dort wur­den 1000 Poly­ethy­len­häus­chen auf­ge­stellt, um den Besu­chern des Frei­luft­got­tes­diens­tes ein Stil­les Ört­chen zur Ver­fü­gung zu stel­len. Fred Edwards war seit­dem mit sei­ner Erfin­dung so erfolg­reich, dass er das Mili­tär ver­ließ und sich ganz der Her­stel­lung und Ver­mark­tung sei­ner Dixis widmete.

Über 40 Jah­re spä­ter sieht man vie­le Dixis: auf Bau­stel­len, auf Stadt­fes­ten, an öffent­li­chen Bade­stel­len und vor allem auf Fes­ti­vals. Und genau dort funk­tio­niert der ursprüng­li­che Gedan­ke nicht mehr. Noch immer schafft die klei­ne trans­por­ta­ble Toi­let­te einen Sicht­schutz, einen „Pri­vat­raum“, doch die Pri­vat­sphä­re wird durch die maxi­mal fort­ge­schrit­te­nen Gerü­che und die Geräusch­ku­lis­se aus den neben­ste­hen­den Dixis been­det. Aber wir fin­den uns damit ab.

"Wo, wann und wie gehe ich am bes­ten aufs Klo? Es macht alles noch spannender."

Noch immer ist die Suche nach einem Dixi eine zeit­auf­wen­di­ge Auf­ga­be. Doch das gehört auf einem Fes­ti­val genau­so dazu, wie an einem der Stän­de anzu­ste­hen. Es ist Teil der Feierkultur.
Irgend­wann kennt man die sel­ten besuch­ten Spots, weiß, zu wel­cher Tages­zeit die Klos gesäu­bert wer­den und der Rei­ni­gungs­ser­vice Pipi-Mey­er ist ein wah­rer Held jedes Fes­ti­vals. Der Geruch des Autos reicht über wei­te Tei­le des Gelän­des, die Auf­merk­sam­keit von allen steigt, sobald es an ihnen vor­bei fährt. Es bil­den sich klei­ne Grüpp­chen, die dem Auto hin­ter­her­schlei­chen. Und all das nur, um als ers­ter eines der frisch gemach­ten Dixis benut­zen zu kön­nen. Es ist fast wie eine Auf­ga­be, der man sich ger­ne stellt. Wo, wann und wie gehe ich am bes­ten aufs Klo. Es macht alles noch spannender.

Wenn ich mir unse­re Eltern auf einem Fes­ti­val vor­stel­le, sehe ich nicht, wie sie die­se Toi­let­ten benut­zen. Eher wür­den sie Kilo­me­ter lau­fen, um einen ruhi­gen Fleck zu finden.
War­um macht es uns nichts aus, die Schei­ße von Ande­ren fast haut­nah zu erle­ben? Wie abge­här­tet müs­sen wir sein, um so etwas über uns erge­hen zu las­sen? Oder sind wir ein­fach nur gleichgültig?

Wir las­sen das Alles über uns erge­hen. Was auch sonst..

Wir wach­sen in einer Zeit auf, in der es nor­mal ist, täg­lich mit Kriegs­bot­schaf­ten kon­fron­tiert zu wer­den. Die Glo­ba­li­sie­rung ist so weit fort­ge­schrit­ten, dass die Medi­en aus ‚aller’ Welt berich­ten. Täg­lich neue Nach­rich­ten über Aus­beu­tung, Spio­na­ge und Menschenrechtsverletzungen.
Und doch dre­hen sich die meis­ten unse­re Gesprä­che gera­de mal einen Tag lang um die Bom­ben in Syri­en, dis­ku­tie­ren wir mit unse­rem lücken­haf­ten Wis­sen einen Abend lang über Erdo­gan und bezeich­nen Donald Trump in einem Neben­satz als grau­en­haf­te Ent­wick­lung für die USA. Mehr nicht. Die wenigs­ten in mei­nem Alter haben eine wirk­li­che Mei­nung, wirk­li­ches Wis­sen über die Gescheh­nis­se. Wir las­sen das Alles über uns erge­hen. Was auch sonst. Es ist zu viel, um es in allen Ein­zel­hei­ten zu erfas­sen und viel zu unerreichbar.

"Wir ent­schei­den uns immer für das glei­che. Für das, was am wenigs­ten Schei­ße ist."

In Deutsch­land steigt das Ange­bot an Aus­bil­dungs- und Stu­di­en­plät­zen jähr­lich. 2015 wur­den 522.000 Aus­bil­dungs­ver­trä­ge neu abge­schlos­sen und im Win­ter­se­mes­ter 2016 gab es ins­ge­samt 8.298 Bache­lor Stu­di­en­gän­ge. Eine Viel­zahl an Ent­schei­dungs­mög­lich­kei­ten und ein unglaub­li­ches Über­an­ge­bot. Dazu kom­men Bil­dungs­pro­gram­me wie ERASMUS, LEONARDO DA VINCI und wei­te­re inter­na­tio­na­le Pro­jek­te. Wofür ent­schei­den? Wie die Zukunft gestal­ten?  Stell dir vor du bist 16 Jah­re alt, hast einen Schul­ab­schluss in der Tasche und die gan­ze Welt steht dir offen. Es wird erwar­tet, dass du dich ent­schei­dest, viel­leicht erwar­test du es sel­ber. Doch du kannst es nicht. Du hast Angst davor, durch eine fal­sche Ent­schei­dung dei­ne eige­ne Zukunft zu versauen.

Eine Genera­ti­on ohne Pro­ble­me. Auf­ge­wach­sen in der west­li­chen Welt, die viel mehr hat als sie braucht. Die die Mög­lich­keit hat sich zu ent­schei­den. Die die Chan­ce hat zu rei­sen, zu job­ben und sich hier und da einen Euro von den Eltern zuschie­ben zu las­sen. Nur die wenigs­ten von uns lei­den unter ihrem Leben.

Es gibt kei­ne Not­wen­dig­keit, sich für eine Sache zu ent­schei­den. Sei es unse­re Hal­tung zum Welt­ge­sche­hen, wie wir unser zukünf­ti­ges Leben gestal­ten oder auf wel­ches Dixi wir gehen. Wir ent­schei­den uns immer für das glei­che. Für das, was am wenigs­ten Schei­ße ist.
Egal ob wir abge­här­tet, scham­los oder gleich­gül­tig sind – ange­sichts  unse­rer Über­for­de­rung grund­sätz­lich ver­ständ­lich, oder?


Yolan­da Maria Rüchel

gebo­ren 1996 in Ber­lin, reis­te nach dem Abitur durch die Welt, unter ande­rem nach Viet­nam, Laos, Thai­land und in die Türkei

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