Die Stadt, aus der die Mör­der kamen. Hal­le und das Schwei­gen zum Mas­sa­ker von Lidice

Die His­to­ri­ke­rin Mari­on Schnei­der (M.S.) enga­giert sich seit Jah­ren für die Auf­ar­bei­tung von NS-Ver­bre­chen. Als Vor­sit­zen­de des inter­na­tio­na­len Kin­der­hilfs­werks 'Our Child e.V.' wand­te sie sich an den Hal­le­schen Ober­bür­ger­meis­ter Dr. Bernd Wie­gand, um über die Ver­bin­dung unse­rer Stadt mit dem grau­sa­men Rache­akt an der Zivil­be­völ­ke­rung von Lidi­ce ins Gespräch zu kom­men und wur­de enttäuscht.Solveig Feld­mei­er (S.F.) inter­view­te Mari­on Schnei­der für den Fern­seh­sen­der salve.tv aus Wei­mar und für die Hal­le­sche Störung.

S.F.: Lie­be Mari­on, bit­te erzäh­le, wie du mit der The­ma­tik Lidi­ce in Berüh­rung gekom­men bist und wel­che Ver­bin­dung du zwi­schen der Aus­lö­schung des Ortes und sei­ner Bewoh­ner im Juni 1942 und der Stadt Hal­le siehst.

Mari­on Schnei­der (Our­child e.V.)

M.S.: Ich beschäf­ti­ge mich seit 2013 mit Stät­ten faschis­ti­scher Gräu­el­ta­ten in Griechenland.
Vor zwei Jah­ren gab es in Brüs­sel ein inter­na­tio­na­les Tref­fen von Gemein­den, die von Mas­sa­kern der Deut­schen betrof­fen waren. Hier tra­fen Ver­tre­ter aus dem grie­chi­schen Kom­me­no und dem tsche­chi­schen Lidi­ce zusam­men. Ich war die ein­zi­ge Deut­sche auf dem Podi­um und hör­te zum ers­ten Mal von Lidi­ce. Mein Ent­schluss war dar­auf­hin, die Pro­ble­ma­tik in Deutsch­land noch bekann­ter zu machen, zumal es in die­ser Zeit auch um Ent­schä­di­gungs­for­de­run­gen der Grie­chen an Deutsch­land ging.

Ich wur­de dann gebe­ten, im Auf­trag von Kom­me­no einen Kranz zum all­jähr­li­chen Geden­ken am 13. Juni in Lidi­ce abzu­le­gen. Die­se Ver­an­stal­tung ist in Tsche­chi­en ein Ereig­nis von natio­na­lem Rang, an dem Ver­tre­ter der Regie­rung und Bot­schaf­ter aus ande­ren Län­dern teil­neh­men. Bei mei­nem Besuch im Muse­um habe ich erfah­ren, wie grau­sam die Poli­zei­kom­pa­nie Hal­le vor­ge­gan­gen ist, um die Bevöl­ke­rung zu „liqui­die­ren“. Sie bil­de­ten das Exe­ku­ti­ons­kom­man­do, das alle 176 Män­ner der Stadt erschoss, wobei der Jüngs­te erst 15 jah­re alt war. Die Kin­der wur­den ihren Müt­tern ent­ris­sen und meh­re­re Tage unver­sorgt gelas­sen. Schließ­lich brach­te man sie im pol­ni­schen Chelm­no um. Sie wur­den in Gas­wa­gen getö­tet. Nur neun Kin­der über­leb­ten, weil man sie „ari­sie­ren“ woll­te. 150 Frau­en wur­den ins KZ Ravens­brück trans­por­tiert, bewacht von Män­nern der Poli­zei­kom­pa­nie Hal­le. Fünf­zig von ihnen star­ben dort.

Kranz­nie­der­le­gung in Lidi­ce 2020

S.F.: In Hal­le ist zwar bekannt, dass Rein­hard Heyd­rich ein Bür­ger der Stadt gewe­sen ist. Dass aber auch das Exe­ku­ti­ons­kom­man­do von Lidi­ce den Namen „Poli­zei­kom­pa­nie Hal­le“ trug, weiß wohl kaum jemand. Wes­halb hast du dich dafür enga­giert, dass der Ober­bür­ger­meis­ter davon erfährt?

M.S.: All das hat mich so ent­setzt! Ich fühl­te mich dafür ver­ant­wort­lich, dass ich dar­über den Bür­ger­meis­ter von Hal­le infor­mie­ren soll­te. Ich woll­te mit ihm dar­über ins Gespräch kom­men, wie Hal­le ein Zei­chen der Mensch­lich­keit in Lidi­ce set­zen könn­te. Hal­le ist in ungu­ter Erin­ne­rung dort. Es ist die Stadt, aus der die Mör­der kamen.

S.F.: Wie wur­de von Sei­ten der Stadt auf dein Ansin­nen reagiert?

Zunächst erst ein­mal gar nicht. Im Herbst 2019 schrieb ich drei Brie­fe, auf die ich kei­ne Ant­wort bekam. Also wand­te ich mich im März 2020 wie­der an den Ober­bür­ger­meis­ter. Und erhielt wie­der kei­ne Ant­wort. Ich ver­such­te es bei der Mit­tel­deut­schen Zei­tung. Kei­ne Reaktion.
Ich schrieb an den Bun­des­prä­si­den­ten. Der teil­te mir iro­ni­scher­wei­se mit, ich möge mich doch an den Ober­bür­ger­meis­ter der Stadt Hal­le wen­den. Ich schrieb Herrn Haseloff und bekam die Ant­wort, dass mein Schrei­ben an die Abtei­lung Inne­res und Sport wei­ter­ge­lei­tet wor­den sei. Das war am 22.Oktober 2020. Seit­dem habe ich von dort nichts gehört. Und ich schrieb an den par­la­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­aus­schuss zum Ter­ror­an­schlag von Hal­le. Aller­dings habe ich auch von dort noch kei­ne Antwort.

S.F.: Wes­halb bist du von die­ser Reak­ti­on so enttäuscht?

M.S.: Anfang des Jah­res 2021 teil­ten mir Frau Dr. Mar­quardt und Dr. Mar­kus Fol­g­ner, Refe­ren­ten für Kul­tur und Sport mit, dass die Stadt Hal­le sich bezüg­lich des Mas­sa­kers von Lidi­ce nicht in der Ver­ant­wor­tung sähe, da die Stadt kei­ne direk­ten hoheit­li­che Auf­ga­ben zu erfül­len gehabt habe. Der Poli­zei­ein­satz sei unter staat­li­cher Hoheit erfolgt, somit läge auch alle Ver­ant­wor­tung beim Staat und nicht bei der Kom­mu­ne. Zudem sei nicht erwie­sen, dass tat­säch­lich Bür­ger der Stadt Hal­le in der Kom­pa­nie gedient hät­ten. Auch gäbe es wider­sprüch­li­che Anga­ben zum Namen des Ein­satz­kom­man­dos. Kurz­um, die Stadt fühlt sich nicht ver­ant­wort­lich. Aber ich habe nie an die Ver­ant­wor­tung appel­liert! Ich woll­te den Fakt bekannt machen und hoff­te, die Stadt wür­de in Lidi­ce ein Zei­chen der Mit­mensch­lich­keit set­zen, indem sie zum Bei­spiel an den Fei­er­lich­kei­ten am 13. Juni teil­nimmt und vor Ort einen Kranz niederlegt.

S.F.: Nun bie­tet Frau Dr. Mar­quardt in ihrem letz­ten Schrei­ben an, dass in Zusam­men­ar­beit mit dem Stadt­mu­se­um gemein­sa­me Pro­jek­te mit Jugend­li­chen aus Lidi­ce und Hal­le denk­bar wären. Was sagst du zu die­sem Vorschlag?

Wap­pen von Lidice

M.S.: Für die Bil­dungs­ar­beit und die Erin­ne­rungs­kul­tur ist das schon eine Chan­ce. Aber ich den­ke, da muss mehr pas­sie­ren. Man kann da nicht ein­fach mal so mit einer Jugend­grup­pe aus Hal­le hin­kom­men. Um jun­ge Men­schen an die Pro­ble­ma­tik her­an­zu­füh­ren, müss­te die Initia­ti­ve von der Stadt Hal­le aus­ge­hen. Es muss ein Sym­bol sein, das passt. Ein Zei­chen, dass von der Stadt gesetzt wird.

S.F.: War­um sind beim Geden­ken an faschis­ti­sche Gräu­el­ta­ten die ört­li­chen Zusam­men­hän­ge wich­tig? Also anders gesagt: War­um hältst du es für rich­tig, dass neben Reprä­sen­tan­ten der Lan­des- oder Bun­des­re­gie­rung eben auch Ver­tre­te­rin­nen aus Hal­le am offi­zi­el­len Geden­ken in Lidi­ce teilnehmen?

M.S.: Wenn ein direk­ter Kon­takt zwi­schen Bür­ge­rin­nen und Bür­gern bei­der Orte ent­steht, dann begeg­nen sie sich von Mensch zu Mensch. Dann wird Erin­ne­rungs­kul­tur leben­dig. Ich hät­te mit gewünscht, dass sich Herr Dr. Wie­gand und Frau Kel­ler­o­va, die Bür­ger­meis­te­rin von Lidi­ce, begeg­nen. Aber viel­leicht über­nimmt ja Frau Dr. Mar­quardt die offi­zi­el­le Ver­tre­tung der Stadt.

S.F: Da sich die Stadt ver­wei­gert, weil sie sich nicht in der Ver­ant­wor­tung sieht, könn­ten doch auch Bür­ge­rin­nen eine ent­spre­chen­de Initia­ti­ve grün­den. Was hältst du davon?

M.S.: Das hal­te ich für sehr gut. Und in jedem Fall bes­ser, als wenn nie­mand aus Hal­le am 13.Juni 2021 an der Gedenk­ver­an­stal­tung teil­nimmt. Aber ich fin­de es den­noch wich­tig, dass das offi­zi­el­le Hal­le sich zu Lidi­ce bekennt.


Inter­view­bei­trag von sal­ve-TV


Mel­dung des deut­schen Rund­funks im besetz­ten „Pro­tek­to­rat Böh­men und Mäh­ren“ am 10. Juni 1942

"Ach­tung, Ach­tung. Amt­lich wird bekannt gege­ben: Im Zuge der Fahn­dun­gen nach den Mör­dern des SS-Ober­grup­pen­füh­rers Heyd­rich wur­den ein­wand­freie Hin­wei­se dafür gefun­den, dass die Bevöl­ke­rung der Ort­schaft Liditz bei Klad­no dem in Fra­ge kom­men­den Täter­kreis Unter­stüt­zung und Hil­fe leis­te­te. Die betref­fen­den Beweis­mit­tel wur­den trotz Befra­gung ohne Mit­hil­fe der Orts­ein­woh­ner erbracht. Die damit bekun­de­te Ein­stel­lung zum Atten­tat wird noch durch wei­te­re reichs­feind­li­che Hand­lun­gen unter­stri­chen, wie Fun­de von staats­feind­li­chen Druck­schrif­ten, Waf­fen- und Muni­ti­ons­la­gern eines ille­ga­len Sen­ders sowie bewirt­schaf­te­ter Waren im größ­ten Aus­ma­ße, und durch die Tat­sa­che, dass Orts­ein­woh­ner sich im akti­ven Diens­te des Fein­des im Aus­land befin­den. Nach­dem die Ein­woh­ner die­ses Dor­fes durch ihre Tätig­keit und durch die Unter­stüt­zung der Mör­der von SS-Ober­grup­pen­füh­rer Heyd­rich gegen die erlas­se­nen Geset­ze schärfs­tens ver­sto­ßen haben, sind die männ­li­chen Erwach­se­nen erschos­sen, die Frau­en in ein Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger über­führt und die Kin­der einer geeig­ne­ten Erzie­hung zuge­führt wor­den. Die Gebäu­de des Ortes sind dem Erd­bo­den gleich­ge­macht und der Name der Gemein­de ist aus­ge­löscht wor­den. Soweit die­ses Bekanntmachung."

 

Die Fak­ten

Am Abend des 9. Juni 1942 erhielt die Poli­zei­kom­pa­nie Hal­le unter Füh­rung von Haupt­mann Weber den Ein­satz­be­fehl für Lidi­ce. Das Dorf wur­de gegen 22.00 Uhr umstellt. Der ers­te Zug, wel­cher spä­ter die Erschie­ßun­gen vor­nahm, rück­te in das Dorf ein. Die Frau­en und Kin­der des 503 Ein­woh­ner zäh­len­den Dor­fes wur­den wäh­rend der Nacht mit Bus­sen abtrans­por­tiert. Mit der Erschie­ßung der Män­ner wur­de gegen 06.00 Uhr begon­nen. Über den Ablauf der Erschie­ßung berich­tet der tsche­chi­sche Mili­tär­his­to­ri­ker Edu­ard Stehlik:

"Nach­dem die Frau­en und Kin­der weg­ge­bracht waren, hat der befehls­ha­ben­de Offi­zier der Schutz­po­li­zei, ein Mann aus Hal­le, der Geburts­stadt Heyd­richs, am Markt­platz bei der Kir­che die Schüt­zen für das Hin­rich­tungs­kom­man­do aus­ge­sucht. Die Mit­glie­der des Kom­man­dos haben aus den nahe­lie­gen­den Häu­sern Matrat­zen im Horaks Hof geholt und an der Wand der Novaks-Scheu­ne auf­ge­stellt, damit die Schüs­se nicht zurück­pral­len und sie ver­let­zen konn­ten. Auf jeden Mann ziel­ten drei Schutz­po­li­zis­ten, zwei haben auf die Brust, einer auf den Kopf geschos­sen. Nach der Exe­ku­ti­ons­sal­ve trat der anwe­sen­de Offi­zier an jeden Exe­ku­tier­ten her­an, um ihm noch­mals in den Kopf zu schie­ßen. Zu Anfang sind alle Män­ner in Fün­fer­gup­pen vor­ge­führt wor­den. Dies ging Horst Böh­me (Befehls­ha­ber der Sicher­heits­po­li­zei) aber zu lang­sam vor­an, so dass er das Exe­ku­ti­ons­kom­man­do ver­dop­pel­te. Somit konn­te man jeweils zehn Män­ner auf ein­mal erschie­ßen. Die Toten lagen so wie sie fie­len und die Neu­kom­men­den muß­ten an ihnen vor­bei lau­fen und sich davor auf­stel­len. Das Exe­ku­ti­ons­kom­man­do trat dar­auf­hin zwei Schrit­te zurück und das Grau­en wie­der­hol­te sich. Den Män­nern wur­den die Augen nicht ver­bun­den, sie waren nicht gefes­selt, kei­nen hat ihnen ein Urteil vor­ge­le­sen. Sie wur­den ermor­det ohne jeg­li­che Erklä­rung. Im Gar­ten ver­blie­ben 173 Leichen."

Nach­dem etwa die Hälf­te der Män­ner erschos­sen war, durf­ten die Poli­zis­ten eine Pau­se machen und erhiel­ten Alko­hol. Eini­ge waren von dem Gesche­hen ziem­lich erschüt­tert. Drei von ihnen konn­ten nicht mehr wei­ter schie­ßen und wur­den aus­ge­tauscht. Gegen 07.00 Uhr wur­den mit dem Nie­der­bren­nen der Häu­ser durch die Schutz­po­li­zei begon­nen. Die Poli­zei­kom­pa­nie Hal­le ver­ließ Lidi­ce gegen 09.00 Uhr


Akten­kun­di­ge Urtei­le im Gerichts­ver­fah­ren am Land­ge­richt Hal­le 1951

Ver­fah­ren Lfd.Nr.1173
Tat­kom­plex: Kriegsverbrechen
Angeklagte:
Ack., Franz Freispruch
Chr., Wil­ly 1½ Jahre
Gerichtsentscheidungen:
LG/BG Hal­le 520320 Az.: I13aStKs101/51
Tat­land: Tschechien
Tat­ort: Lidice
Tat­zeit: 4206
Opfer: Zivilisten
Natio­na­li­tät: Tschechische
Dienst­stel­le: Poli­zei Poli­zei-Ein­satz-Reser­ve­kom­pa­nie Halle
Ver­fah­rens­ge­gen­stand: Betei­li­gung an der in Lidi­ce nach dem Atten­tat auf Heyd­rich durch­ge­führ­ten Ver­gel­tungs­mass­nah­men, die zur Erschies­sung der männ­li­chen Dorf­be­woh­ner und zur Ver­schlep­pung der Frau­en und Kin­der führ­ten, durch Absper­ren des Dor­fes und Beglei­tung der Frau­en ins KL Ravensbrück

Ver­öf­fent­licht in DDR-Jus­tiz und NS-Ver­bre­chen Band IV
Quel­le: http://www1.jur.uva.nl/junsv/ddr/ddrtatortfr.htm

 

Foto oben: Denk­mal für die Kin­der von Lidi­ce ( Foto: Hans-Peter Schaefer )

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