Mein Deutsch-deutscher Schriftverkehr zweier Mädchen begann 1961. Meine Mutter, tätig im sogenannten Staatsapparat (Rat des Bezirkes) in Halle an der Saale, brachte mir die Adresse einer Birte aus Bremen mit. Das Mädchen hatte, wie nicht wenige Kinder aus der damaligen Bundesrepublik, die Ferien in einem unserer beliebten Ferienlager der DDR verbracht.
Das war damals nicht unüblich, weil auf beiden Seiten sehr wohl auch an eine Wiedervereinigung der beiden Deutschen Staaten gedacht wurde, zumindest von einigen. Von staatlicher Seite der DDR wurde der Kontakt unter Kindern gefördert. Natürlich nur unter den Kindern, deren Eltern der 1956 verbotenen KPD nahe standen. Ich war damals 12 Jahre und Briefeschreiben zählte zur allgemeinen Freizeitbeschäftigung. Es gab also auch eine flüchtige Brieffreundschaft in die UdSSR, nach Bulgarien und Rumänien. Doch die sprachliche Barriere war zu groß, und ich kein Sprachgenie.
So kam es, dass ich im August, kurz vor der Schließung der Grenze, meine ersten Zeilen an Birte schrieb. Und Monat für Monat vertieften wir per Brief diese Bekanntschaft. Ich sammelte Schauspieler, Schlagersängerinnen und Briefmarken und wir versuchten uns gegenseitig damit zu erfreuen. Wir waren gleichaltrig, hatten beide im September Geburtstag und waren ohne Geschwister aufgewachsen, sie bei ihren Eltern und ich bei einer alleinerziehenden Mutter. Birte wollte wissen ob ich Pionier sei. Natürlich war ich das, obwohl mich das weniger interessierte. Für Birte war nach einigen Monaten klar, dass ich als einzige ihrer Brieffreundschaften aus dem Osten übrig blieb, sicher auch, weil ich eifrig schrieb. So wuchsen wir mit intensivem Austausch über unsere Lebensweisen und gesellschaftlichen Verhältnissen auf. All meine Briefe, die ich an sie schrieb existieren noch heute und sind ein guter Fundus unserer Lebensgeschichte.
Das Deutschlandtreffen zu Pfingsten 1964
Ein zahlreicher Briefwechsel hatte uns schon sehr neugierig aufeinander gemacht. Kleine Geschenkpäckchen wanderten regelmäßig zu den Geburtstagen sowie Ostern und Weihnachten hin und her. Wir beglückten uns immer gegenseitig mit Dingen, die im eigenen Lande teuer oder schwer erhältlich waren. Beispielsweise erhielt ich noch vor der Jugendweihe einen seidenen Unterrock und ein weinrotes Unterhöschen mit angeschnittener Beinlänge und schwarzer Spitze. Damit erregte ich in meiner Schulklasse Aufsehen. Oder Rock’n Roll Klammern, winzige farbige Wäscheklammern, die damals aktuell wie heute mancher Button waren. Später bekam ich natürlich auch einen klassischen Peace-Anstecker und eine Natoplane. Meine war allerdings grün und nicht blau wie alle anderen. Es waren ja schließlich die Sechziger...
Das Auspakcken der Päckchen war immer ein Hochgenuss. Der Duft von Kaffee oder Süßigkeiten war eben anders und dann die liebevolle Verpackung, mit der ich nie mithalten konnte, was die farbenfrohe Gestaltung mit Schleifenbänderrn und Einschlagpapier anbetraf. Aber schönes Briefpapier hatten wir. Damit konnte ich mich revanchieren. Des Weiteren schickte ich Schnitzereien aus dem Erzgebirge, Bücher, Schallplatten nach dem Westen. Später richtete ich Birte die Küche mit Holzgegenständen ein und Sportartikeln für ihren Fitnessraum. Ich bekam wunschgemäß Haarschmuck, Strumpfhosen und T-Shirts. Meine Farbwünsche waren allerdings immer ein Problem. Damals glaubte ich ja noch, dass es im goldenen Westen alles gäbe und konnte mir nur schwer vorstellen, wenn Birte schrieb, wie lange sie nach schwarz oder einer bestimmten Farbe suchen musste. Heute ist mir klar, dass es Trendfarben gibt und dann hängen überall Klamotten in gleichen Farbtönen.
Inzwischen hatten wir beide die Jugendweihe hinter uns und einige Fotos ausgetauscht. Heute unvorstellbar, dass es Fotos eher selten gab. Von Birte erhielt ich Farbfotos, meine waren schwarzweiß. Aber ich schrieb, dass mein Zweiteiler zur Jugendweihe hellblau, das Oberteil dreiviertel Armlänge, Rock mit Kellerfalten und die 5cm hohen Absatzschuhe sandsteinfarben waren. Eine bis zum Bauch reichende großgliedrige silberne Kette wirke mit dem Perlmuttanhänger sehr dekorativ. Der Anhänger war ca. acht Zentimeter lang und hatte eine dreieckige Form. Ich fand mich schön. Mein Haar trug ich noch halblang. Ein Jahr später sah das schon anders aus. Haare kurz geraspelt, einfach mit der Rasierklinge abgeschnitten.
Von Birte erhielt ich Farbfotos, meine waren schwarzweiß.
Aber ich schrieb, dass mein Zweiteiler zur Jugendweihe hellblau,
das Oberteil dreiviertel Armlänge, Rock mit Kellerfalten
und die 5cm hohen Absatzschuhe sandsteinfarben waren.
Ich war inzwischen FDJlerin (FDJ- Freie Deutsche Jugend) und fühlte mich auch sehr erwachsen und geehrt, weil ich zum Deutschlandtreffen nach Berlin durfte. Aus meiner Klasse war ich die Einzige. Berlin! Die Hauptstadt, und dann die Möglichkeit, dass Birte vielleicht auch zu diesem Deutschlandtreffen durfte? Immerhin reisten Leute aus dem Westen unter bestimmten Umständen in die DDR. Strategische Pläne schwirrten durch meinen Kopf. Wie könnte ich es anstellen, dass wir uns in Berlin treffen können? Zunächst besorgte ich mir eine Postkarte aus der Hauptstadt. Ich erwischte eine von der Berliner Humboldt-Universität mit Blick auf die Staatsoper. Nie zuvor war ich in einer größeren Stadt als Halle gewesen. Ich kannte mehrere Ostseebäder, Prerow, Sellin, Graal Müritz, auch Ferienorte im Harz oder Erzgebirge. Eine Ahnung wie groß so eine Stadt sein könnte hatte ich nicht wirklich. Staatsoper und Humboldt-Universität schienen mir zentral und bekannt und leicht auffindbar. Außerdem wussten auch wir in der Provinz, dass es sich „Unter den Linden“ gut flanieren ließ, und dass der Demonstrationszug dort auch lang führen könnte, vielleicht sogar bis zum Brandenburger Tor. Ein markanter Treffpunkt ist eine Oper allemal. Vor dem Unigebäude zieren links und rechts vorm Eingang zwei riesige Denkmale der Gründerväter. Links vom Eingang, an den Stufen des Heinrich von Humboldt machte ich ein fettes Kreuz. Diese Karte schickte ich Birte nach Bremen und ich zitiere Zeilen aus dem Begleitschreiben.
Liebe Birte!
…….Ich habe jetzt meine Fahrkarte für Berlin in der Tasche, aber wo ich untergebracht werde, erfahre ich wahrscheinlich erst nach meiner Ankunft. Ich war ja noch nie in Berlin und Du kannst Dir sicher vorstellen, dass es dann gar nicht so einfach ist, sich dort herein- und herauszufinden. Ich schicke Dir eine Karte mit. Ich selbst muss diese Stelle auch erst einmal auskundschaften. Ich weiß aber schon, dass es die Staatsoper ist, die sich unter den Linden befindet. Dort werde ich mich am 16.5. um 9.00; 11.00 und 14.30 Uhr vor das Denkmal hinstellen. Solltest Du dann auch Zeit haben, so bitte ich Dich, dort hinzukommen. Am 17.5. wird morgens und im Laufe des Vormittags eine Demonstration sein. Vielleicht werden Schilder getragen aus welcher Stadt die Teilnehmer sind. Ich werde dann am Rand gehen. Ich habe natürlich wie alle anderen eine FDJ Bluse an. Am Nachmittag werde ich wieder am Denkmal stehen und zwar um 16.00 Uhr, solltest Du da Zeit haben. Ist es aber nicht der Fall, so kannst Du mich am 18.5. um 11.00 und um 15.00 Uhr dort antreffen……….herzlich Deine Monika
Nun muss ich sagen, dass ich berechtigte Hoffnung hatte, Birte in Berlin zu treffen, denn ihr Kinderchor des Arbeiter- und Gesangsvereins, hatte vor, zum gleichen Zeitpunkt nach Potsdam zu fahren. Das hatte die Chorleitung im Westen sich gut ausgedacht. Schließlich hätten sie sich nicht einfach dem FDJ-Treffen der DDR anschließen können. Also planten sie eine Bildungsreise. Doch bis zu meiner Abreise nach Berlin konnte mir Birte nichts Genaueres mitteilen. Was auf mich zukam, um die Treffpunktzeiten einzuhalten, das ahnte ich ja nicht. Wir hatten zwar alle Freifahrtscheine, aber im Zentrum fuhr wegen der Massen kaum eine Bahn. Die Fahrt nach Berlin erfolgte im Güterzug. Es war für mich wie eine Reise in die Ferien mit dem typischen Proviantbeutel, Brötchen, Knackwurst, Apfel,??? und irgendwas Süßem. Es war lustig. Am späten Abend war ich dann vor Ort – Ostseestraße. Da ich erst 15 Jahre war wurde ich in die Obhut einer 19-jährigen Bärbel gegeben, die bereits eine Lehre als Lebensmittelverkäuferin absolviert hatte. Wir sollten uns in der Ostseestraße 124 bei Familie Block melden. Zunächst machten wir uns erst mal bekannt und schlenderten, die Hausnummer suchend, gemütlich zu unserem Domizil, als plötzlich eine Frau aus dem Fenster rief, dass wir uns gefälligst mal etwas beeilen sollten. Sie wollen ihren Zug noch kriegen und das wird langsam knapp. Tatsächlich überließ uns das Ehepaar ihre Wohnung. Sie drückten uns den Schlüssel in die Hand und waren weg. Das Wohnzimmer war abgeschlossen und im Schlafzimmer, Bad und Küche konnten wir uns die drei Tage tummeln. Allerdings kamen wir kaum dazu, denn nicht nur ich, auch Bärbel hatten Verabredungen. Außerdem wollte ich mich noch mit einer Schulfreundin aus Halle in Berlin treffen, deren Onkel, bei dem sie war, zufällig auch in der Ostseestraße wohnte. Zunächst fasste ich aber meine gewünschte Verabredung ins Auge.
Erste Begegnung
Pünktlich Sonnabend um 9.00 Uhr stand ich das erste Mal am Humboldtdenkmal. Unzählige Kilometer absolvierte ich per Fuß und lief mir schon am ersten Tag die Füße fast wund. Doch das Glück war mir bzw., uns hold, denn bereits zum dritten Termin um 14.30 Uhr kam Birte aus dem Gebäude der Staatsoper auf mich zu. Sie erkannte mich sofort an meinen Jugendweiheschuhen. Drei Tage lief ich mit diesen Stöckeln durch die Gegend, im FDJ-Hemd, mit kurzem Pepitarrock und einem Pepita Cappy ähnlich einem Jockeyhütchen. Diese Hütchen waren offensichtlich ein Festspielaccsessoire. Nun war die Freude erst mal groß. Tatsächlich weilte der Kinderchor des Arbeiter- und Gesangsvereins zur selben Zeit in Potsdam und nutzte die Gelegenheit ein Theaterstück in Berlin anzuschauen. So ein Zufall und so eine gute Vorahnung. Birte verließ den Saal in der Pause, weil sie mich am gegenüber liegenden Denkmal wusste. Zwei Brieffreundinnen aus Ost und West, die sich noch nie sehen oder hören konnten, begegneten sich erstmalig und doch sehr vertraut. Nach Ende der Vorstellung zogen wir mit noch einigen Chorleuten ins Hotel Berolina und der Chorleiter spendierte Cognac. Das Zeug schmeckte zwar scheußlich, aber es war toll aus den gläsernen bauchigen Schwenkern zu nippen. Wir kamen uns sehr Erwachsen vor. Die Chorleute aus dem Westen mussten gegen 18.00 Uhr weiter, und ich zog wieder allein los. Von der Demonstration bekam ich nicht viel mit. Eine Nacht musste ich noch bei einem Jungen auf der Couch übernachten, weil meine Mitbewohnerin den einzigen Schlüssel hatte und nicht nach Hause kam. Alle Leute in der Stadt waren äußerst gastfreundlich und es waren für mich sehr fröhliche Tage. Am 21. Mai 1964 erschien in der Zeitung „Der Morgen“ noch die kleine Geschichte über die großzügige Beherbergung unserer Gasteltern mit Foto von meiner Mitbewohnerin und mir.
Einladung nach Halle/Saale
Inzwischen tauschten sich Birte und ich schon fünf Jahre eifrig per Post aus und ich wagte es, sie nach Halle einzuladen. Es war offensichtlich sehr unkompliziert, trotz Mauer. Lediglich die Mütter tauschten sich darüber aus.
Der Brief an meine Mutter:
Bremen, d. 14.3.65
Werte Frau Denner!
Mein Mann und ich haben uns sehr über Ihre netten Zeilen gefreut u. möchten Ihnen herzlich danken, dass Sie unsere Birte für eine Woche Ihr Gast sein darf. Birte freut sich schon seit langem auf die Fahrt. Da ich schon wiederholt in der DDR gewesen, gibt es für mich absolut keine Bedenken, meine Tochter zu Ihnen nach Halle zu schicken. Natürlich wäre es sehr schön, wenn Monika diesen Besuch einmal erwidern könnte. Unsere Herren in Bonn reden immer nur von Wiedervereinigung. Wenn die Jugend der DDR mit der unsrigen Jugend für Verständigung eintritt, ist Bonn dagegen. Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass auch Monika mal unser Gast sein wird. Mein Mann und ich sind überzeugt, dass diese Reise für Birte ein schönes Erlebnis sein wird und hoffen, dass es für Sie nicht eine allzu große Belastung wird. Mit freundlichen Grüßen an Sie u. Monika Ihre G.S. nebst Mann
Daraufhin weilte Birte eine Woche bei uns in Halle, ging auch mal mit mir zur Schule und wir gingen tanzen. Birte war von Halle begeistert, auch von den Straßenlaternen, die nachts leuchteten und den beheizten Wohnungen, in denen auch noch ausgiebig gelüftet wurde. Das nannte sie Luxus.
Wie ging es weiter mit den Brieffreundinnen?
Sie lebten eine klassische Frauenbiografie, die eine im Osten und die andere im Westen und sind heute Rentnerinnen im vereinten Deutschland, telefonieren, schreiben nur selten Briefe und Päckchen gibt es auch nicht mehr.