Martin Klähn gehörte zum Kreis der Erstunterzeichnenden des Aufrufs 'Für unser Land' , mit dem 1989 die Bürgerbewegung NEUES FORUM entstand. Der Ex-Bauingenieur leitet heute einen Bildungsträger und ist Mitglied bei attac, Grüne Liga, Förderkreis Jüdisches Gemeindezentrum Schwerin und der Havemann-Gesellschaft. Wir sprachen mit ihm über die Zeit vor 30 Jahren und über die Zeit von heute.
[Foto: Erste Demonstration des Neuen Forum in Schwerin im Oktober 1989 - © Jennus / Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0 ]
Die „friedliche Revolution“ vor 30 Jahren gilt als hinreichend erforscht und dokumentiert. Stimmen die offiziellen Erzählstränge mit Ihren ganz persönlichen Erfahrungen überein oder können Sie wesentliche Lücken ausmachen und benennen?

Martin Klähn
Ich bin seit langem der Meinung, dass die eigentliche Friedliche Revolution gegenüber der Feier der Wiedervereinigung ins Hintertreffen geraten ist. Aber aus westdeutscher Perspektive muss dieses Narrativ hochgehalten werden, weil es eine Gründungslegende ist, die den Einfall der westlichen Gesellschaft im Osten legitimiert. Aus meiner Perspektive muss man die Rolle der Bürgerbewegung relativieren, weil sie mit der großen Erzählung und dem Hochhalten ihrer Bedeutung nicht zusammenpasst. Dazu gehört beispielsweise das gegenseitige Nichtverstehen zwischen Oppositionellen und Bevölkerung. Wir werden oftmals als 'naive Idealisten' bezeichnet. Wenn wir 'Realisten' gewesen wären, wären wir niemals in der Opposition gelandet. Wir konnten uns als Opposition nur engagieren, indem wir Ziele benannten, die seinerzeit als irrelevant und unrealistisch galten. Aber wir haben daran festgehalten und sind dafür eingetreten – es war unsere Vision.
Als Erstunterzeichner eines oppositionellen Mobilisierungsaufrufs riskierten Sie persönlich sehr viel. Woher schöpften Sie damals ihre Kraft und Überzeugung, dass es gelingen kann?
Das ist einfach zu beantworten. 1987 habe ich meinen Reservistendienst verweigert und Kontakt zum Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer aufgenommen. Und damit war ich auf dem Weg. Dann kam der Überfall auf die Zionskirche, wo Leute eingesperrt und nach einer Woche wieder entlassen wurden, was früher undenkbar gewesen wäre. Und als sie ihnen später dann auch noch den Druckapparat wieder zurückgegeben haben, war mir klar, mit der Staatssicherheit stimmt irgendwas nicht mehr, das geht hier den Bach runter. Kurzum: Ich war der Überzeugung, dass das System ohnehin zusammenbricht und habe die Chance genutzt, selbst etwas zu gestalten, etwas Neues zu beginnen. Insofern war ich nicht der Ansicht, viel zu riskieren und aus der Motivation, die gegebene Chance zu nutzen, kam dann die Kraft.
Das NEUE FORUM mobilisierte als Bewegung Hunderttausende, verlor aber schnell seine Kontur in Parteienbündnissen. War es aus Ihrer Sicht ein Fehler, den Weg in die Parlamente nehmen zu wollen und gehörten Sie zu denjenigen, die ihn befürworteten oder ablehnten?
Es gab damals lange Diskussionen, ob die oppositionellen Gruppen sich in das parlamentarische System integrieren sollen. Ein Blick in die westdeutsche Realität hat uns gezeigt, dass diejenigen, die außerhalb agieren, nicht mitbestimmen. Das Vertrauen in den Faktor 'Bürgerbewegung' bröckelte. Mit der Maueröffnung setzte dann sofort auch der Zerfallsprozess ein. Innerhalb weniger Wochen differenzierte das Neue Forum sich aus und verschwand quasi in den Parteien, von der CDU bis zu den GRÜNEN. Oder sie verfolgten lokale Projekte wie die Gründung von Stadtteilzentren oder ähnlichem. Die Berliner Gruppe des NEUEN FORUM rief nach dem Mauerfall dazu auf, sich vom Westen nicht einwickeln zu lassen, an der begonnenen Entwicklung festzuhalten und nicht auf den Konsumterror hereinzufallen. Und an der Stelle kam dann ein Joachim Gauck und sprach in vertraulicher Runde: Die Bärbel Bohley dürfen wir nicht mehr auftreten lassen, die kostet uns jedes Mal 100.000 Sympathisanten...
Die Hauptforderungen des Gründungsaufrufes von 1989 scheinen zeitlos: Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden, Schutz und Bewahrung der Natur. Wo stehen wir heute – 30 Jahre nach dem „Ende der Wende“?
Diese Forderungen stammen aus dem „Konziliaren Prozess“ , wurden also aus Kirchenkreisen in den Aufruf eingebracht. All diese Ziele sind heute noch aktuell, aber die Situation ist eine völlig andere. Wenn ich mit den Leuten von Fridays for Future rede, sage ich: Ihr müsst an Eure Eltern ran. Wenn Ihr die überzeugt, weniger Fleisch zu essen, zu fliegen und zu konsumieren, dann könnt Ihr Euch sicher sein, dass wir das schaffen. Diesen Aspekt habe ich kürzlich auch mit 'extension rebellion' auf einem Podium diskutiert: Wenn radikale Umweltbewegungen heute auf Blockadeaktionen setzen, ist der Gegner nicht mehr 'die Politik' , sondern die 'normalen Leute' , die Autofahrer. Das kann sich zuspitzen – wie in den USA. Ich würde also darüber nachdenken, ob es eine Möglichkeit gibt, die Leute mitzunehmen, die zunächst mal befremdet sind von Anliegen wie 'extension rebellion' und andere sie vertreten. Andererseits ist meine Erfahrung, dass eben diese Leute mit Argumenten häufig gar nicht zu erreichen sind. Das stimmt mich wirklich pessimistisch.
Damals ging es um eine kleine erstarrte DDR, heute haben wir es aber mit einem weltweit etablierten System namens Neoliberalismus zu tun. Halten Sie Menschen heute für naiv, die die Welt mit Forderungen wie „System Change now“ aus den Angeln heben möchten?
Naiv ist nicht das richtige Wort dafür. Es ist ja notwendig. Und meinetwegen ist es dann notwendig, naiv zu sein. Vom Wissen zum Handeln zu kommen, ist immer schwierig. Aber wenn ich mir vor Augen führe, was in den letzten 30 Jahren alles gelaufen ist, wie der Konziliare Prozess, der Agenda-21-Prozess, attac, 'We are the 99 percent' , usw. .. Ich erinnere mich an Graswurzelprojekte in der Bundesrepublik, die WG's und Kommunen gründeten, selbstverwaltete Betriebe und ökologische Landwirtschaft aufbauten - um Inseln zu bilden und im Kleinen nachhaltig zu leben. Sie wollten ein Beispiel geben, das in ihr soziales Umfeld ausstrahlt und so attraktiv ist, dass andere ihnen folgen. Aber oft waren nicht mal die eigenen Kinder dann bereit, das weiterzuführen. Wenn wir also zusammentragen, was gescheitert ist, scheint es so, als wären all diese Menschen naiv gewesen. Aber man könnte auch sagen: Sie konnten gar nicht anders. Sie haben für sich die Notwendigkeit gesehen, anzufangen. Ist das naiv? Das denke ich nicht. Es ist derselbe Konflikt wie der von 1989 zwischen Bürgerbewegung und Bevölkerung.
Immer wieder entstehen neue basisdemokratische Bewegungen oder Parteien, die den Anspruch erheben, das etablierte Parteiensystem durch mehr Direkte Bürgerdemokratie zu verändern: „Demokratie in Bewegung“ , „Bürgerkandidaten“, „Piratenpartei“ , oder aktuell „die basis“. Glauben Sie eigentlich noch an das Konzept „Bürger in die Politik?“
Den Verein Mehr Demokratie habe ich von Anfang an unterstützt und war im Landesvorstand von Mecklenburg-Vorpommern. Das Verfahren von Volksentscheiden habe ich immer als einen Prozess von Selbstermächtigung der Bürger, gekoppelt mit einem Bildungsprozess gesehen. Also dass man sich Wissen aneignet, um sich eine Meinung zu bilden, um eine Frage beurteilen zu können und entsprechend zu handeln.
Aber das ist wieder so ein Idealbild. Oft kommt es in der Realität über ein Ja oder Nein, über das oft noch aus dem Bauch heraus oder je nach Tagesform entschieden wird, nicht hinaus. Ich bin ein Befürworter von Bürgerengagement, Bürgerhaushalten, Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene – unter der Prämisse, dass die Leute sich mit einem Thema selbst auseinandersetzen und sich ein Urteil bilden. Aber wie gesagt: Das ist eine sehr idealistische Position, die auch der Verein "Mehr Demokratie e.V." vertritt.
Die Zeit ist reif.“ hieß ein Schlüsselsatz aus dem Gründungsaufruf des Neuen Forum. Auch in der heutigen Bundesrepublik ist politische Stagnation zu spüren, und es mehren sich die Rufe nach grundlegenden Veränderungen. Haben Sie eigentlich ab und zu ein Deja vu – Gefühl?
Dass die Zeit reif war, haben wir damals gesehen. Das war keine falsche Diagnose. Aber was die Situation und die Verhältnisse in der DDR betrifft, habe ich heute keinerlei Deja vu-Gefühl. Wenn ich die Fridays for Future-Bewegung sehe, finde ich es großartig, dass sich etwas bewegt, dass sich Leute auf den Weg machen. Gleichzeitig finde ich es schade, dass Éngagierten sich nicht dafür interessieren, was es vorher schon gegeben hat. Wen interessiert es, dass attac die Gemeinnützigkeit verloren hat? Es gibt eine Menge an Ideen, die man aufgreifen und in die neuen Bewegungen mit einbeziehen könnte.
Scheinbar geht es den vorwiegend jungen Leuten wie Ihnen damals: Sie wollen neu anfangen.
Ja, sie wollen neu anfangen. Aber was machen sie, wenn ihre Eltern ihnen sagen: Wenn du mit dem Unsinn nicht aufhörst, finanziere ich Dir Dein Studium nicht. Viele dieser Eltern sind Realisten, die wissen, aber nicht handeln. Darum meine ich, wäre es gut, genau dort anzufangen, in den eigenen Familien.
Das Gespräch führten im Herbst 2020 - 30 Jahre nach dem 'Ende der Wende'
Jörg Wunderlich ( Redaktion „Hallesche Störung“ ) und
Uta Rüchel ( Soziologin, Autorin und Filmemacherin, Berlin )