Die Johann-Gottfried-Seume-Gesellschaft zu Leipzig e. V. hat zum 30. Juni 2020 ihre Auflösung beschlossen. Liquidator Georg Meyer-Thurow beantragte die Löschung aus dem Vereinsregister.
Das Vereinsblatt „Obolen“ soll im September ein letztes Mal erscheinen. Die 1999 von einer Gruppe um den Bielefelder Germanisten Jörg Drews (1938−2009) gegründete Seume-Gesellschaft hatte mehrere Fachtagungen ausgerichtet, Aufsatzsammlungen herausgegeben, Reisen und Ausstellungen organisiert. Johann Gottfried Seumes Texte sind ziemlich einmalige Mischungen aus Reiseerzählung, aufklärerischem Briefroman, Antikengeklingel und tagesaktuellem rant. Meinen (D. S.) Zugang zu Seume vermittelte der Fernsehfilm "Die Reise nach Syrakus" von Karl Wolfgang Biehusen, der in den 1970er und -80er Jahren mehrfach in den dritten Programmen gezeigt wurde. Biehusen war später langjähriger Schatzmeister der Seume-Gesellschaft und betreibt heute noch die Website www.seume.de
Um 1985 folgte für mich die Teilnahme an einer Tagung in Grimma: "Reiseliteratur im Umfeld der französischen Revolution". Der Beitrag des Halleschen Germanisten Thomas Höhle dazu ist in einem Tagungsband der Uni Halle nachzulesen. 1995 erschien die Erzählung "Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus" von Friedrich Christian Delius, die der Seume-Begeisterung neue Nahrung gab. 1999 nahm die Seume-Gesellschaft ihen Sitz in Leipzig, während Grimma Hoheitsgebiet des älteren Seume-Vereins "Arethusa" blieb. Im Oktober 2003 sprach Drews im Seumehaus, der ehemaligen Göschenschen Druckerei, über seine Reise auf den Spuren Seumes ins kanadische Halifax. Man reiste gemeinsam zur Quellnymphe Arethusa nach Syrakus und organisierte 2005 eine Tagung mit Ausstellung in der Akademischen Bibliothek Riga.
Jörg Drews pflegte eine erfrischende "hyperkritische" Herangehensweise an seine Dichter-Lieblinge, zu denen neben Seume auch Peter Rühmkorf und Arno Schmidt gehörten. Auch seine Editionspraxis der "Obolen" war ausgesprochen streng, mein Beitrag "Seume und der Teuerungstumult von Halle" wurde peinlich genau redigiert. Politisch sah Drews die bürgerlich-demokratische Revolution immer noch als eine Bevorstehende. Die Folgen von Weltkriegen, Diktaturen und neoliberaler Tyrannei schrien geradezu nach einem neuen Sturm auf die Bastille!
Das ist der Geist der neuen Zeit
Nach dem Tod von Jörg Drews 2009 ging es mit der Seume-Gesellschaft immer nur bergab. 2010 gab es anlässlich des 200. Todestag Seumes ein Familientreffen der Oehmes in Rückmarsdorf. Die Nachkommen der Schwester Seumes feierten den Kinderlosen. Jan Decker beschreibt die Szenerie in seinem Roman "Der lange Schlummer". 2012 führte die Evangelische Akademie Bad Boll eine Tagung zum Thema "Seume als Abenteurer" durch. Überbau war hier die Promenadologie (Spaziergangs-Wissenschaft, engl. strollology) nach Lucius Burckhardt. Das 2004 mit üppigen Fluthilfe-Geldern renovierte Seume-Haus am Grimmaer Markt wurde 2017 geschlossen, um den Mietzuschuss der Stadt Grimma einzusparen (einen Bruchteil der Fluthilfen). Seume-Gesellschaft und Seume-Verein taten nichts dagegegen. Die Querelen sind teilweise in "Göschens Welt" nachzulesen, dem Journal des Grimmaer Göschenhauses.
Literarisch und "strollologisch" waren und sind Seumes Texte immer wieder Anreger für Heutige. Man denke auch an Roger Nastolls "Wanderimpressionen aus Nordthüringen, einem Freunde mitgeteilt in Briefen". Politisch liegen Seume-Adaptionen und -Analysen heute völlig quer zum Zeitgeist mit seiner Dienstboten-Gesellschaft in künstlicher Angst. In "Göschens Welt" findet sich auch der Nachruf auf die Johann-Gottfried-Seume-Gesellschaft zu Leipzig e. V.:
„Hier liegen meine Gebeine,
ich wollte es wären deine!“
(Carl Julius Weber)
Foto: privat