In der selbstverwalteten Region Rojava in Nordsyrien entsteht eine basisdemokratisch organisierte multiethnische Gesellschaft, in der den Frauen mehr Mitbestimmung ermöglicht und Meinungsfreiheit herrschen soll. Nun wurde dort die erste Kunstakademie gegründet - eine Idee aus den Reihen der PKK.
Kobanê. Wochenlang war die nordsyrische Stadt nahe der türkischen Grenze in aller Munde. Nach der harten Verteidigung von Kobanê gegen den sogenannten Islamischen Staat durch die kurdischen Kämpfer_innen beginnt nun vor Ort nach und nach der Wiederaufbau. Unter erschwerten Bedingungen - durch anhaltende Kämpfe und strikte Embargos der Nachbarländer Syriens - entsteht dort, so dringen Stimmen aus der Region, etwas ganz Neues: Es ist die Rede von einer Revolution der Frauen, von Basisdemokratie und von Meinungsfreiheit. Davon schwärmt auch Ömer, ein türkischer Kurde, der am Wiederaufbau der Region beteiligt ist. Er hat die letzten Monate in Kobanê verbracht und ist gerade einige Tage in Istanbul, wo ich ihn an einem verregneten Tag in einem Teegarten treffe. Ömer sieht müde aus und abgekämpft. Aber bei einem Wort leuchten seine Augen auf: Rojava. Rojava sind die derzeit selbstverwalteten Kantone im Norden Syriens, zu denen auch die Stadt Kobanê gehört. Und wenn Ömer von Rojava erzählt, spricht aus seinen Sätzen die Hoffnung auf Veränderung. Dort habe jede Straße ihren eigenen Rat, eine Art Miniparlament, das für diesen Bereich alle wichtigen Regelungen übernehme. Lasse sich etwas auf dieser Ebene nicht regeln, werde das Problem an die übergeordnete Ebene weitergegeben. In Rojava scheint das alltäglich zu sein, was in der europäischen Union als Subsidaritätsprinzip bezeichnet wird, ein politischer und gesellschaftlicher Grundsatz, der besagt, dass gesellschaftliche Probleme auf der untersten, für dieses Thema angemessenen Ebene eines politischen Systems, gelöst werden und damit Eigenverantwortung und Selbstbestimmung fördern soll.
Fortschrittliche Verfassung für Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Nachhaltigkeit
Rechtlich festgehalten, so erklärt Ömer, seien all diese Regelungen, in einer Verfassung, die sich die Menschen von Kobanê, Efrîn und Cizîrê selbst gegeben haben - eine Verfassung, die sich schon im Vorwort für Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Pluralismus, für die Rechte von Frauen und Kindern und für Nachhaltigkeit ausspricht und die sich gleichzeitig gegen Nationalismus, Zentralismus, Militär und Einfluss von Religion auf öffentliche Angelegenheiten wendet. Das grundlegende Prinzip sei bei allem die lokale demokratische Selbstverwaltung. Die Integrität von Syrien werde dabei aber nicht angetastet. Eine Besonderheit sei vor allem die starke Beteiligung der Frauen, die ja auch Kobanê mit verteidigt haben. „Früher waren die Frauen so etwas, wie die Hunde oder Katzen des Hauses, heute begegnet man ihnen mit Respekt“, schwärmt Ömer. Mann und Frau sollen in Rojava gleichgestellt sein. In der Verfassung ist festgehalten, dass mindestens 40 Prozent der politischen Vertretungen und Ämter von Frauen besetzt werden sollen.
Auch die verschiedenen ethnischen Gruppierungen werden politisch repräsentiert: in der Verwaltung gibt es in jedem Ressort eine_n kurdischen, arabischen und eine_n christlichen-assyrischen Minister_in und es gibt drei offizielle Amtssprachen: Kurdisch, Arabisch und Aramäisch, die Sprache der syrischen christlichen Minderheit. Derzeit besteht Rojava aus drei unzusammenhängenden Kantonen. Die Gebiete dazwischen werden vom sogenannten islamischen Staat kontrolliert. Doch auch wenn die kurdischen Kämpfenden weiter vorrücken sollten, ist nicht klar, ob die dortige überwiegend nichtkurdische Bevölkerung einen Anschluss an Rojava befürworten würde. Für Ömer hingegen ist klar, dass er in dieser anderen, neuen und demokratischen Gesellschaft leben möchte. Dort hat er das Gefühl, endlich etwas verändern zu können.
In der Türkei hat sich der türkische Kurde nie ganz willkommen gefühlt. Als ich ihn vor drei Jahren zum ersten Mal traf, lebte er in Istanbul und arbeitete hart, um sich ein Leben in der Millionenstadt zu finanzieren. Damals sprach er immer davon, dass er sich aus der Gesellschaft zurückziehen und allein in der Natur leben wolle. Heute hat sich das geändert. „Es ist nicht der Ort, der uns verändert, der uns schön und gut werden lässt“, fasst er seinen Sinneswandel zusammen, „sondern wir sind es, die die Orte, an denen wir leben, verändern. Und das möchte Ömer jetzt in Rojava. Er möchte aktiv werden, um dort eine Zukunft zu schaffen, die nicht mehr geprägt ist von Gewalt und Krieg, sondern von Gemeinschaft und Menschlichkeit.
Wandel in der Region sorgt für Anziehungskraft
Nicht nur Ömer zieht es in diese Region. Da viele Grenzübergänge nach Rojava weiterhin geschlossen sind, gelangen seine kurdischen und türkischen Freund_innen auf geheimen Wegen dorthin. Auch einige Europäer_innen sind von dem dortigen System fasziniert. Ömer schätzt die Zahl der Menschen mit Wurzeln im europäischen Ausland auf etwa 600. Diejenigen, die in Europa weiterhin ihr behütetes Leben leben und nicht aktiv werden, könne er nicht so recht verstehen. Sie sollten endlich ihre Regierungen beeinflussen, damit deren Waffen nicht mehr in den Händen der Kämpfenden des sogenannten islamischen Staates landeten. „Wir alle machen uns schuldig, wenn wir nichts unternehmen, wenn Menschen frieren, wenn sie Hunger haben, wenn sie sterben. Niemand kann sagen Das geht mich nichts an. Wir leben alle zusammen in einem Haus, auf dieser Erde.“ Dass für diesen Traum von einer neuen Welt, diesen einigermaßen sicheren Ort im Norden Syriens erst einmal Gewalt notwendig war, bedauert auch Ömer. „Aber was willst du machen, wenn grausame Menschen kommen, ganze Landstriche zerstören und Frauen und Kinder töten. Willst du herumsitzen und abwarten, bis sie dich und deine Familie umbringen?“ Vor allem die Kinder liegen Ömer am Herzen. Für sie will er in Rojava eine neue Zukunft schaffen.
Tausend Menschen studieren Kunst in Kobanê
Während die Gefechte an anderer Stelle weitergehen, hat nach Informationen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Kobanê die erste Schule eröffnet. Seit drei Monaten gebe es nun auch eine Kunstakademie in Cizîrê, dem nordöstlichen Teil von Rojava. Etwa 1000 Menschen zwischen 17 und 70 widmen sich hier unter widrigen Umständen den schönen Künsten. Es gebe viele Künstler, die frei arbeiteten, aber auch Unterricht in den Bereichen Malerei, Musik und Bildhauerei. „Die Härte des Krieges muss irgendwie aus den Menschen verschwinden. Die Kunst hat die Kraft, diese Menschen wieder weich zu machen“, ist Ömer überzeugt. Gerade laufen die letzten Vorbereitungen, um eine Fakultät im Bereich Film zu eröffnen. Kein ausländischer Journalist oder Regisseur soll die Geschichten der jungen Menschen erzählen, die gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft oder um ihre Freunde oder Familien gebangt haben. „Wir möchten ihnen das Handwerkszeug beibringen, das sie brauchen, um ihre eigenen Geschichten zu erzählen.“ Doch gerade haben die Kämpfe gegen den sogenannten Islamischen Staat im Nordosten Syriens wieder begonnen und die sonst genutzten Routen in die Region sind nicht mehr sicher. Daher warten Ömer und seine Mitstreiter derzeit in Istanbul, bis sie wieder nach Rojava reisen können. Die Idee für die Kunstakademie sei in der PKK entstanden, jedoch frei von jeglicher Ideologie. Genau wie in der politischen Organisation der Region, soll auch hier die Freiheit spürbar sein, die den Menschen gegeben würde. Anders als in vielen benachbarten Regionen, gebe es hier keine Vorgaben, welche Kunst gemacht und welche politischen Aussagen getroffen werden dürften. Ömer glaubt daran, dass sich eines Tages Künstler aus aller Welt in Rojava versammeln werden, um in Freiheit leben und arbeiten zu können.
Seinen Tatendrang widmet er allerdings nicht nur der Kunst. Eigentlich will er durch seine Arbeit mitwirken an der Schaffung einer besseren, einer menschlicheren Welt. Der Grundstein dafür, so glaubt er, sei im Norden Syriens gelegt. „In Rojava begegnet man sich von Mensch zu Mensch. Und genauso sollten das auch alle anderen Menschen tun, denn wir alle sind Lebewesen. Ich atme, und du atmest: durch den Atem sind wir miteinander verbunden.“
Dorothea Flämig