Es macht mir persönlich Freude, alte Geschichten mit der jetzigen Zeit zu vergleichen. Dramen, Krimis oder Horrorgeschichten müssten es nicht sein, um einen Nervenkitzel oder Angstgefühl zu erzeugen. Denn die bekannten Volksmärchen aller Nationen tragen dem schon Genüge. Doch wenn ich mich in sicherem Gefilde befinde, und den Ausgang kenne, weiß, dass das Böse bestraft wird, oder die Ordnung wiederhergestellt wird, dann ist der Reiz des Bösen schnell mal langweilig. Es müssen neue Geschichten her. Und so gibt es mehr Gruselgeschichten als je zuvor. Jede fünfte Sendeminute im Fernsehen ist ein Krimi. Eine niedrige Reizschwelle ist bereits in der Bevölkerung zu verzeichnen.
Von den vielfältigen Phobien mal abgesehen, gibt es immer mehr Versagensängste und Existenzängste, die zu unseren Urängsten hinzukommen und Groß und Klein immer häufiger zu Gewalttaten verführen. Man braucht schon eine gehörige Portion Phantasie, dass am Ende das Gute immer belohnt wird wird. Wir alle haben Wünsche und Träume, und um diesen und unserer Urangst etwas auf die Spur zu kommen möchte ich ein Märchen beleuchten, dessen Bezug zur Gegenwart recht deutlich wird - denn:
Rotkäppchen lebt heute!
Immer wieder sind es die alten Geschichten, die sich im neuen Gewand wiederholen. Ich meine Märchen und Geschichten, die seit Jahrhunderten erzählt werden, die es aber Jahrtausende schon gibt, in welcher Form auch immer. Auf alle Fälle sind die klassischen Märchen immer, oder vorwiegend, die Geschichten der Männer, die gerade in der jeweiligen Epoche an der Macht waren oder sind. Eine wesentliche Rolle spielen dabei, aus jüngster Zeit, die Gebrüder Grimm, die mit ihrer Märchensammlung zu Weltruhm gelangten. Natürlich lebten die beiden in einer Gesellschaftsform, da man Frauen sehr gerne zweifelhafte Rollen zugeteilt hatte. Mädchen oder Frauen waren hilflos, waren Opfer oder eine böse Frau, eine Hexe, oder, wenn sie klug war, musste sie über Gebührendes leisten, um Anerkennung zu finden. Nun, es gab natürlich auch Söhne oder arme Männer, denen es ähnlich ging.
Mit dem Rotkäppchen möchte ich kurz eine Mädchen- oder Frauenrolle beleuchten, in die sich in irgend einer Form auch heute noch Frauen begeben und nicht nur zum Karneval, auch wenn gerade bei Verkleidungen die Piratinnen, Meerjungfrauen, oder Herrscherinnen bevorzugt werden. Auch Prinzessin ist nun mal nach wie vor, der Traum vieler junger Mädchen, ob im Jungmädchenoutfit nach neuestem Trend, oder im Ballkleid. Shopping Queen, wo es um Klamotten und Äußerlichkeiten geht ist eine Fernsehsendung, die schon 3jährige anzieht. Und man höre und staune, auch reifere Frauen zieht es schon wieder in so eine Rolle. Das ist gut zu beobachten in der Doku - Soap „Zwischen Tüll und Tränen“ beim Privatsender VOX, denn da schalten vor allem Frauen zwischen 14 und 49 gern mal ein. Und der Marktanteil dieser Sendung ist fast so hoch wie der beim Ersten Programm von ARD. Die alten Geschichten kleben leider wie Pech an uns und ändern sich nur, je nach gesellschaftlichen Umständen, ganz, ganz langsam, wenn überhaupt. Und ob sie besser werden, ist auch noch fraglich. Denn bei einer Umfrage konnte ich feststellen, dass heute viele junge Mädchen glauben, sie müssten den Frosch küssen, um ihn zum Prinzen werden zu lassen. Selbst meine Wenigkeit, die sich emanzipiert dünkt, ist hin und wieder anfällig für ein altes Rollenklichee.
Welche Rolle spielt nun das Rotkäppchen noch heute?
Höchstwahrscheinlich war sie eine Jungfrauengeburt, ein uneheliches Kind, ein Bastard. Denn von einem Vater ist nicht die Rede. Der kommt einfach nicht in der Geschichte vor.
Und wir alle wissen, was das für streng religiöse Leute heute noch bedeuten kann. Vielleicht nicht so sehr in unserem Kulturkreis, aber es gibt noch andere Kulturen, und auch bei uns läuft einiges langsam wieder rückwärts. Das Mädchen, das Rotkäppchen, kam also in das Alter, wo die Mutter wagte, das Kind allein los zu schicken. Wie alt wird Rotkäppchen gewesen sein?
Vermutlich zwischen 8 und 13 Jahre, und das ist die Zeit der Pubertät, die Entwicklungszeit zur Geschlechtsreife. Wir wissen, dass in anderen Kulturen diese Mädchen, oder junge Frauen bereits verheiratet wurden und werden. Im Mittelalter war es üblich ein so junges Mädchen oft als Ding zu bezeichnen. Das „junge Ding“, und das rutscht auch heute noch manchen Leuten so raus, ist aber eben im Sinne von Sache, Gegenstand oder Objekt zu sehen. Interessanterweise werden Männer so nicht bezeichnet. Das „junge Ding“ also, wenn auch sächlich, bezieht sich eben nur auf weibliche Personen. Spitzfindig wäre ja zu meinen, dass es auch schöne Dinge gäbe. Jedoch ist eine solche Sprechweise sehr herablassend und drückt viel über die Stellung weiblicher Personen aus. Nun, in unserer Muttersprache lässt sich so einiges entdecken, was im Vaterland üblich war und auch noch ist. Das Rotkäppchen, dieses Mädchen, definiert sich gar über die rote Kappe, die es trägt. Einen anderen Namen hatte das Mädchen nicht bekommen, jedenfalls nicht in den meisten Fassungen. Doch ich fand bei meinen Recherchen, dass es auch Lotte heißen sollte, die lieber im Wald unterwegs war, als sich anständig zu benehmen. Allein im Wald zu spazieren ist also nicht anständig. Und nicht selten wird heute Mädchen und Frauen geraten welche Wege sie nicht benutzen sollten.
Das Rotkäppchen mit seiner Geschichte ist also tief in uns verankert. Und sein Name könnte durchaus ein Indiz dafür sein, dass diese Geschichte entstand, da Namen, auch Vornamen, von Pflanzen, Berufen oder Eigenschaften hergeleitet wurden. Die rote Kappe in diesem Fall symbolisiert nicht das Mädchen, sondern eine weibliche Person vor dem Eintritt in die fruchtbare Phase des Lebens. Und das bedeutet, dass sich das erste Mal das Mondblut bei ihr zeigen wird, auch Menarche genannt und ist möglicherweise auch eine Marginalisierung junger Frauen, welche in die Pubertät kommen und die Geschlechtsreife erlangen. In nicht wenigen Ländern bedeutet es auch, sie sind reif für den Mann. Diese Herleitung durch die Märchenforschung ist, wie ich finde, sehr gut nachvollziehbar.
Damals, und heute teilweise wieder, wird den jungen Frauen um diese Zeit herum ein Geschenk gemacht, oder ein Fest ausgerichtet. Und dieses Ritual wäre in unserer zu beschauenden Geschichte dem Gang zur Großmutter gleichzusetzen. Das Rotkäppchen sollte also zu seiner Großmutter gehen, die erkrankt im Bett lag. Einst waren die Großen Mütter, die weisen alten Frauen, die ihr Wissen den Kindern weiter geben sollten und ganz besonders den Mädchen. Große Mütter waren weniger krank oder gar bettlägerig. Doch die Urmütter waren im Verlauf der Zeitgeschichte bereits geschwächt wie auch Mutter Erde. Zunehmend wurden sie ausgebeutet, wurde ihnen die Kraft genommen, so dass sie der weltlichen Zerstörungsmacht zum Opfer fielen. Der kranken Großmutter Gaben zu bringen dienten ihrer Wertschätzung und symbolisierten mit Rotwein und Kuchen das, was sich bei der Geschlechtsreife entwickelte.
Zunächst wies die Mutter dem Mädchen den Weg zur Großmutter, die bei den drei großen Eichen wohnte. Von jeher waren und sind Bäume lebenswichtig und gerade Eichen, die tief wurzeln und hoch ragen symbolisieren Kraft, Stärke und Fruchtbarkeit. Und deshalb wählte man auch Eichen als Kultplätze und für Fruchtbarkeitsrituale. In ähnlicher Form lassen einige Familien heute wieder die alten Rituale aufleben, wenn auch, gemessen an dem heutigen Wohlstand etwas abgewandelt. Einst gehörte zu den Fruchtbarkeitsritualen auch das vergraben des Mutterkuchens unter einem Baum, oder, er wurde gar an den Baum gehängt. Das förderte die Fruchtbarkeit des Baumes tatsächlich, aber sollte symbolisch auch die Fruchtbarkeit der werdenden Frau fördern.Dass der Mutterkuchen, genannt Plazenta, heute wieder von einigen Frauen mit nach Hause genommen wird, zählt also auch zu dem wiederbelebten Ritual. Das Rotkäppchen im Märchen war demnach reif für diese Entwicklungsphase. Und ihre so typische Tracht entstand im 19. Jahrhundert, woraus sich im Laufe der Zeit eine folkloristische Bekleidung und wandelbare Kostümierung kreieren ließ.
Denn noch heute sind Rotkäppchenkostüme aktuell, natürlich etwas frivoler oder schräger. Es gibt auch den Rotkäppchensekt, der vielleicht in die Geschichte eingehen wird und sicher auch die Rotkäppchentomate. Und wer weiß was da noch so kommt. Dass der Rotwein, den das Rotkäppchen mit bekam, das Mondblut symbolisiert, die zu erwartende Regelblutung und der Kuchen für die Plazenta- den Mutterkuchen steht, ist besonders gut zu verstehen, wenn der Wolf, wie in älteren Märchenfassungen fragt: „Rotkäppchen, was trägst du unter deiner Schürze?“ Denn genau darunter entwickeln sich Mutterkuchen und Blut. Natürlich vergaß die Mutter nicht, das Mädchen auf die lauernden Gefahren im Leben hinzuweisen. Es solle nicht vom Wege abkommen, weil da der Wolf lauerte, der böse Wolf.
Der Wolf verkörpert im Märchen das Böse - den bösen Wolf oder auch bösen Mann. Die Feldforschung hingegen ergab, dass freilebende Wölfe grundsätzlich friedliche Tiere sind, die den Menschen eher aus dem Weg gehen. Rudel werden von erfahrenen Muttertieren angeleitet und nur Rüden, die sich dem Rudelverband nicht fügen, werden ausgeschlossen und so zum einsamen Wolf, der reißt was ihm in die Fänge kommt.
Im nordischen Weisheitsbuch, der EDDA, wird die „Endzeit“ auch „Wolfszeit“ genannt. Wir müssen blind sein, wenn wir da keine Parallelen erkennen! Denn, Invasionen von alten und neuen bösen Wölfen sind am Werk. Der Esoterikmarkt wuchert, selbsternannte spirituelle Führer, Propheten, Schamanen oder Hexen verschlingen die Rotkäppchen der Gegenwart. Und vom Wege abgekommen sind nicht wenige. Oft, nicht ganz freiwillig, haben sie ihre Bahn verlassen, oder wurden von einem Wolfsmann vereinnahmt. Am Ende kommt im Märchen der Jäger zu Hilfe. Aber ist ein Jäger wirklich der Retter? Ich denke NEIN. Wie schon sein Name sagt - Jäger. Ein Jäger sorgt sich sehr wohl um einiges, so auch um das Wild im Wald, aber eben auch nur, um es später zu erlegen. Dann gibt es im Wald noch den Förster. Der Förster hegt den Wald, aber auch nur, um ihn letztendlich auszubeuten. Wir alle haben natürlich ebenfalls einen Nutzen davon. So sieht es aus - in der Zivilisation!
In einer älteren Fassung des Rotkäppchens gab es noch keinen Jäger sondern den Weidmann. Und der verweist auf das Mittelalter. Denn ca. Im 13. Jahrhundert wurden Feuerwaffen entwickelt und somit auch Gewehre, mit denen dann der Jäger daher kam. Folglich stammt jede Geschichte mit einem Gewehr aus einer jüngeren Zeit. „Weidmanns Heil“ als Grußwort hat sich bis heute gehalten. (Nebenbei bemerkt ist gerade ein Lehrberuf in der Forstwirtschaft sehr gefragt. Wir werden es erfahren ob der Andrang dem Hegen, Jagen oder der Hoffnung auf einen Waffenschein gilt.)
Zurück zum Weidmann - Selbst im Etymologischen Wörterbuch von Kluge wird nur ca. Eintausend Jahre zurück geschaut. Doch unsere Geschichte, auch die Märchen gibt es schon länger.
Wo kommt das Wort Weidmann her? Da liegt doch das Stammwort Weide nahe. Die Weide gilt als Futter spendendes Grasland- ähnlich einer nährenden Mutter. Der Weidenbaum ist biegsam, geschmeidig und hat freie Bewegungsmöglichkeit. Nicht nur die freie Bewegungsmöglichkeit könnte auf eine matriarchale Zeit verweisen, wäre aber möglich. Demnach könnte der Weidmann ursprünglich durchaus auch eine Frau gewesen sein, da einige Märchen auch aus matriarchaler Zeit stammen. Da spielten Männer im Märchen noch nicht die Rolle, die sie später inne hatten. Z.B. auch bei „Frau Holle“- kommt auch kein Mann vor. Der Weidmann muss eine vertraute, eine eingeweihte Person gewesen sein, die für einen friedlichen und heilsamen Ort zu sorgen hatte. Die Jäger im Märchen, mit Flinte oder Gewehr waren jedenfalls noch nicht an der ursprünglichen Entstehungsgeschichte des Rotkäppchens beteiligt. Spannend ist allemal, dass sich seit Jahrhunderten, und länger, nicht wirklich viel verändert hat.
Zum Schluss möchte ich noch einen Hinweis auf die Wölfe oder Werwölfe - Werwölfe in Menschengestalt geben. Erste Erwähnung findet der Werwolf rund 2.000 vor Christus - laut Wikipedia. Diese Gestalt zieht sich durch unsere Menschheitsgeschichte. In frühen und anderen Kulturen wurde der Wolf schon sehr verehrt. Die Wölfe beim germanischen Kriegsgott Thor sind aber gleichzusetzen mit Gier(Geri), Gefräßig (Freki), und Schatten (Sköly). Heute erleben wir aktuelle Wolfssymbole, auch Symbole aus jüngster Vergangenheit der Werwölfe. Seit 2002 gibt es die Kleidermarke Thor Steinar, die Millionen Umsätze macht. Die Sachen wurden in der Türkei und China hergestellt. 2009 hat ein arabisches Unternehmen diese Marke gekauft. Außerdem gibt es noch Yakuza, das Markengeschäft, das den Namen des japanischen Verbrechersyndikats trägt - wenn wundert es da, dass das Verbrechen in jeder Form Hochkonjunktur hat. Seit 2024 gibt es hunderte Werwolfspiele, die sich zunehmender Beliebtheit erfreuen sollen und das wird noch nicht alles gewesen sein.
Es war einmal, und so wird es auch weiter gehen.
Inspiriert durch „Rotkäppchen lebt heute“ - von Judith Jannberg 1994
Gerlinde Schindler * 1938
Bild ganz oben: Silea von den Artistokraten auf der Landesgartenschau in Bad Dürrenberg (Foto: M. Heinrich 2024)