Einer neuen Wahlumfrage zufolge ist das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) derzeit die drittstärkste politische Kraft in Sachsen-Anhalt*. Mitte Mai kamen Unterstützer und Mitglieder eines im Aufbau befindlichen Landesverbandes der neuen Partei in der Händelhalle zusammen.
Sie reisten aus allen Teilen Sachsen-Anhalts an: Studierende und Akademiker, Gewerkschafter und Renter, Unternehmer und Medienschaffende, Handwerker und Angestellte. Der Georg-Friedrich-Händel-Saal war mit circa 400 Menschen bis in die hintersten Reihen gefüllt. Begrüßt wurden die Anwesenden von einem unterhaltsam-eloquenten Moderator, der sich als Veranstalter von Salongesprächen vorstellte und mit Anekdoten aus dem Thüringer BSW-Wahlkampf und ein paar Spitzen gegen die SPD aufwartete. Weil die angekündigte Parteigründerin im Stau steckengeblieben war, bekam er um so länger die Gelegenheit, die lokale Spitzenkandidatin zur Europawahl und die regionalen Koordinatoren der neuen Partei vorzustellen.
Von Staßfurt nach Strasbourg
Die Staßfurterin Bianca Göhrke ist Geschäftsführerin eines Bildungsträgers und will für das BSW ins Europaparlament einziehen. Vor kurzem machte sie noch Kommunalpolitik für die LINKE in Staßfurt. In Straßburg möchte sie sich nun unter anderem für eine bessere und nachhaltigere Förderpolitik der Bildungslandschaft einsetzen. Entsprechende ESF-Programme gelte es endlich an den Erfordernissen der Realität auszurichten, mit längeren Fristen und einer nachhaltigen Finanzierung statt der üblichen kurzfristigen „Anschübe“.
Um mehr Finanzkraft für die EU zu ermöglichen, müsste Steuerflucht konsequent verhindert und alle Unternehmensgewinne konsequent dort besteuert werden, wo die Wertschöpfung erfolge. Unter Beifall benannte Göhrke ihre Vision einer reformierten EU, die sich immer dort zurücknimmt, wo die einzelnen Mitgliedsländer ihre Belange besser selbst regeln können. Das gelte nicht für die Verteidigungspolitik, allerdings komme es dort auf mehr europäische Souveränität gegenüber Bündnispartern an.
Auf eine Publikumsfrage, mit welchen Konzepten die neue Partei politisch für mehr Demokratie und Partizipation sorgen möchte, verwies Göhrke auf das BSW-Konzept selbstständiger Expertenräte. Mit solchen basisdemokratischen Gremien organsisiert das Bündnis derzeit die innerparteiliche politische Positionsbildung, wobei eine Mitgliedschaft keine Voraussetzung ist, daran teilzunehmen.
Mit Transparenz gegen Lobbyismus
Ein anwesender Forensiker und Medizinrechtler aus Magdeburg brachte die grassierende Privatisierungswelle im Gesundheitswesen zur Sprache. Durch aggressive private Equaty – Geschäfte würden jede Menge öffentliche Krankenhäuser aufgekauft und nach einer wirtschaftlichen Ausgliederung von Filetstücken bis zur Schließung kaputtgespart. Diese Problematik war Göhrke aus Staßfurt bestens vertraut, wo erst vor wenigen Wochen ein Betreiberkonzern die Schließung von Kliniken und Stationen bekanntgab. Hier brauche es eine „radikale Wende“, viel mehr Aufsicht durch die Öffentlichkeit und Politik, denn die Bürger würden zu recht vom Staat erwarten, dass für ihre geleisteten Steuern die soziale Daseinsvorsorge gewährleistet werde.
Unterstützung bekam Bianca Göhrke dann per Videoeinspieler von Spitzenkandidat Fabio de Masi, der scharfzüngig die derzeitige deutsche Regierungspolitik kritisierte, die viele Menschen einfach „fassungslos“ mache. De Masi ist auch als Cum-Ex-Auflärer in der Causa Olaf Scholz bekannt. In seiner Grußbotschaft machte er deutlich, dass er in Straßburg auch EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen parlamentarisch und juristisch zu Transparenz in Sachen SMS-Pharma-Deal verhelfen will. Um solchen Insider-Lobbyismus im EU-Parlament künftig eindämmen zu können, will de Masi politisch dafür kämpfen, dass zukünftig alle privaten Aktiengeschäfte von Politikern schonungslos offengelegt werden müssen.
Realitäten wahrnehmen und handeln
Auch die Hallenser Regionalkoordinatorin Dr. Winkelmann-Wittkowsky sparte nicht mit Kritik. Die promovierte Archäologin arbeitet unter anderem als Sprachlehrerin für Geflüchtete. Bei BSW engagiert sie sich für die Arbeitskreise Migration/Integration, Bildungspolitik sowie Naher Osten. In einer ruhig vorgetragenen emotionalen Rede beklagte Winkelmann-Wittkowsky die Ignoranz der Politik gegenüber den offensichtlichen Problemen bei der Integration. Neueste Zahlen besagten, dass ein Großteil der Schulabbrecher aus Familien mit Migrationshintergrund komme. Das sei kein Wunder, wenn in manchen Grundschulklassen nur 50 Prozent der Kinder die deutsche Sprache verstehen würden. Einer drohenden Tendenz zu Parallelgesellschaften müsse man unbedingt mit mehr Blick für Realitäten begegnen. Dieser Position konnte sich ein Mitarbeiter einer Erstaufnahmeeinrichtung nahtlos anschließen, der sich als Regionalkoordinator für den Norden das Landes vorstellte.
Als Sarah Wagenknecht schließlich nach mehr als einer Stunde den Saal betrat, spiegelte sie vom Podium aus das sich bietende Bild im Saal: Unter dem Vorläufigen Parteinamen BSW würden sich viele Bürgerinnen und Bürger versammeln, die bislang in keiner anderen politischen Partei aktiv waren. Das gelte auch für die Führungsebenen, wo die Partei im Vergleich zu anderen den größten Anteil an Nicht-Berufspolitikern habe. Die gesamte Parteiprogrammatik werde in dezentralen Expertenräten erst erarbeitet. Aus der laufenden Bundestagsarbeit konnte Wagenknecht erste Erfolge berichten. So sei zu vermuten, dass Olaf Scholz mit seiner 15 Euro-Mindestlohn-Offensive einen zuvor abgeschmetterten Antrag der BSW-Gruppe für eine Anhebung auf 14 Euro mal eben überflügeln wollte. Dabei sei es gar nicht seine Aufgabe als Regierungschef, Forderungen zu stellen, sondern Politik umzusetzen.
Ist Europa noch zu retten?
Auch an Sarah Wagenknecht gab es noch reichlich Fragen aus dem Publikum. Eine davon zielte auf die Perspektiven politischer Zusammenschlüsse im neuen EU-Parlament. Um eine neue Fraktion zu bilden, müssen sich wenigstens 23 Abgeordnete aus mindestens sieben Ländern zusammenfinden. Wagenknecht wusste hier zu berichten, dass es erfolgreiche Vorgespräche mit anderen europäischen Parteien gegeben habe und das BSW nach derzeitigem Stand zu einer Fraktionsbildung in der Lage wäre, sollten die Wahlergebnisse den Umfragewerten entsprechen.
„Ist Europa noch zu retten?“ wollte jemand wissen, und bekam zur Antwort, dass es neben einer selbstbewussten europäischen Politik auf Augenhöhe mit Großmächten auch auf die Schaffung einer eigenen digitalen Infrastruktur ankomme. Eine Frau erfragte Wagenknechts Haltung zum politisch international umstrittenen WHO-Pandemievertrag. Bei der Abstimmung im Bundestag hatten die BSW-Abgeordneten nicht teilgenommen. Wagenknecht jedoch antwortete mit einer „ganz klaren Ablehnung“ angesichts einer in den letzten Jahrzehnten immer fragwürdiger gewordenen Finanzierungsstruktur dieser Organisation verwies dabei auf die Kritik von „Ärzte ohne Grenzen“ an der WHO. Mit einem metastaatlichen Vertrag als Machtinstrument seien unwägbare Gefahren verbunden, weshalb Wagenknecht hoffe, dass dieser scheitere.
Ein ganz klares Nein erteilte Wagenknecht auch der eskalationfördernden Kriegspolitik der Ampel-Regierung und verwies auf das im Grundgesetz festgeschriebene Friedensgebot. Damit der Frieden eine Chance bekommen kann, müsse aus der Spirale der Konfrontation ausgebrochen und zu den alten Regeln gegenseitiger Kontrolle und Gespräche zurückgekehrt werden.
Dem grassierenden neuen Militarismus – etwa der jüngsten Forderung von Bundesbildungsministerin Watzinger nach Wehrunterricht à la DDR müsse man entschieden entgegentreten. Anstatt einer Wehrpflicht könne man statt dessen ein verpflichtendes soziales Jahr für junge Menschen einführen. Dadurch würde man nicht nur Lücken in der sozialen Versorgung schließen, sondern jungen Menschen auch einmal Erfahrungen „Out of the Bubble“ ermöglichen und die gegenseitige Wahrnehmung ansonsten getrennter sozioökonomische Milieus fördern.
BSW-Unterstützertreffen wie das in Halle finden dieser Tage und Wochen bundesweit in vielen Städten statt. Die neue Partei will erklärtermaßen langsam und kontrolliert wachsen, um die politischen Gründungsziele nicht durch abweichende Mitgliederströme zu gefährden. In Halle gibt es bislang circa 100 Unterstützerinnen und Unterstützer, in Sachsen-Anhalt sind es knapp 800. In Thüringen liegen BSW und Linke bei den Umfragen zur Landtagswahl gleichauf. Zusammen wäre es die stärkste Kraft.
*Link zur FORSA-Wahlumfrage vom 17. Mai 2024